Wie uns Flügel wuchsen von X66 ([KaRe]) ================================================================================ Kapitel 1: Trennung ------------------- Wie uns Flügel wuchsen „Friendship is love without his wings.“ Lord Byron Kapitel 1: Trennung Es war vorbei. Endlich vorbei. Es hatte ihn selbst überrascht, wie erleichtert er sich nun tatsächlich fühlte, wie…frei. Doch fühlte er sich gleichzeitig schuldig Mao gegenüber, dass er vor allem diese Erleichterung empfand und nicht tiefe Traurigkeit oder Enttäuschung. Von diesem Konflikt völlig eingenommen, schloss Rei mechanisch die Tür zu dem gemeinsamen Appartement auf, das er mit Max, Takao und Kai bewohnte. Nachdem er sich Schuhe und Jacke ausgezogen und sie irgendwo in den Flur geworfen hatte, machte er sich auf den Weg in die Küche, um sich dort einen Tee zu kochen. Es war Samstagmorgen, sehr früh, und keiner der anderen war schon wach, noch nicht einmal Kai. Der Schwarzhaarige seufzte, als er sich an den Küchentisch setzte. Er hatte Kopfschmerzen, weil er die Nacht nicht geschlafen hatte, und massierte sich mit kreisenden Bewegungen die Schläfen, während er darauf wartete, dass das aufgesetzte Wasser zu kochen begann. Er hatte sich in der letzten Nacht von Mao getrennt, nach knapp zwei Jahren Beziehung. Wie jeden Freitagabend war er mit ihr in den Clubs der Stadt unterwegs gewesen und wie jeden Freitag hätte er bei Mao übernachten sollen. Aber auf dem Weg zu ihrer Wohnung hatten sie sich in die Haare gekriegt. Es hatte mit irgendeiner belanglosen Kleinigkeit angefangen und war irgendwo zwischen Haus- und Wohnungstür ausgeartet. Schließlich in der Wohnung angekommen, hatten sich Mao und er furchtbar gestritten und sich alles an den Kopf geworfen, worüber sie in den letzten zwei Jahren kein Wort verloren hatten. Das Ganze hatte damit geendet, dass Rei sich von Mao getrennt hatte. Sie hatten eigentlich beide gewusst, dass es zwischen ihnen schon seit längerem nicht mehr so geklappt hatte wie vielleicht am Anfang. Mao war offensichtlich trotzdem nicht bereit gewesen, ihre Beziehung zu beenden, denn sie war in eine Tränenflut ausgebrochen, nachdem Rei die Worte der Trennung ausgesprochen hatte. Das Wasser kochte mittlerweile längst und während Rei dieses vorsichtig in die Tasse goss, in die er zuvor einen Teebeutel gehängt hatte, fragte er sich, ob er andere Worte hätte wählen müssen, ob er zu harsch gewesen war, als er mit Mao Schluss gemacht hatte. Es hatte ihn nicht unberührt gelassen, dass sie so viele Tränen vergossen hatte - schließlich mochte er sie eigentlich noch immer, nur eben nicht mehr auf diese besondere Art und Weise. Seine Entscheidung bereute er indes nicht, weder in jenem Moment, noch jetzt, wo er Bedenkzeit gehabt hatte. Es war, als wäre ihm mit der Trennung eine schwere Last von den Schultern gefallen, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass er sie überhaupt trug. Er setzte sich mit seinem Tee wieder an den Küchentisch und nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. Als er sich noch einmal an all das erinnerte, was er mit Mao erlebt hatte, fragte Rei sich, ob es mit Mao und ihm jemals so gut funktioniert hatte, wie er immer geglaubt hatte. Innerlich versprach er sich, dass er nicht noch einmal zulassen würde, dass eine Beziehung so den Bach hinunterging, ohne dass er es bemerkte. Das nächste Mal wollte er ehrlicher mit sich selbst sein und eine Beziehung nicht so lange von seinem Alltagstrott führen lassen. In diese Gedanken brach Kai hinein, indem er die Küche betrat. Er grummelte ein „Morgen“, machte sich einen Kaffee und setzte sich zu Rei. Erst dann realisierte er offenbar, dass es höchst merkwürdig war, diesen an einem Samstagmorgen in der Küche anzutreffen. „Was machst du um diese Uhrzeit hier?“, fragte er. „Ich habe mich von Mao getrennt“, kam die Antwort ohne Umschweife. Es war das Einzige, was Rei momentan beschäftigte, und da er loswerden musste, was geschehen war, gab es kein Zögern in seiner Erwiderung. Es folgte ein kurzes Schweigen von Kai, dann zog er eine seiner Augenbrauen hoch. „Willst du drüber reden?“ Der Schwarzhaarige nickte. Er war froh, dass Kai es war, mit dem er als Erstes über alles reden konnte. Sie studierten an derselben Uni, verbrachten insgesamt viel Zeit miteinander und waren mehr oder minder das, was man als beste Freunde bezeichnen mochte. Rei wusste zwar, dass ein Annehmen des Angebotes des Russen hieß, dass er redete und der andere lediglich zuhörte. Aber das reichte auch schon. Entgegen Annahmen der vermutlich meisten Menschen, die Kai nicht persönlich kannten, war dieser ein erstaunlich guter Zuhörer, sofern er dies denn wollte. Denn er konnte denjenigen, den er diesen Gefallen tat, auch ohne Worte seinerseits das Gefühl vermitteln, verstanden zu werden. Also begann Rei zu erzählen, wie alles mit immer häufigeren Streitereien angefangen hatte, weil Mao jede Kleinigkeit zu einem Riesentheater hatte werden lassen; wie sie immer häufiger miteinander geschwiegen hatten, weil sie einander nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu erzählen gehabt hatten; wie sie beide aber der Realität offenbar nicht ins Auge hatten blicken wollen und ihre nicht mehr funktionierende Beziehung fortgeführt hatten, als sei nichts gewesen. Es erleichterte Rei, jemandem all das mitzuteilen, was er so lange unbewusst in seinen Gedanken unter Verschluss gehalten hatte. Der Schwarzhaarige verstummte nach einer Weile, hatte sich alles von der Seele geredet, was er loswerden wollte, und das genügte, um es ihm ein bisschen besser gehen zu lassen. Als ein verschlafener Max die Küche betrat, saßen sie einträchtig schweigend in dieser. „Guten Morgen“, sagte er herzhaft gähnend, bevor er sich ebenfalls einen Becher aus dem Schrank nahm. „Ich dachte, du wärst bei Mao bis heute Nachmittag, Rei? Du hast doch gestern gesagt, dass du wie immer bei ihr bist“, fragte er, gesellte sich dabei zu den beiden an den Tisch. Rei seufzte, bevor er antwortete. Er hatte von vorneherein gewusst, dass er nicht darum herumkommen würde, die Neuigkeit mehrmals zu verkünden. „Ich habe mich diese Nacht von Mao getrennt. Ich –“ „Getrennt? Wer hat sich getrennt?“, kam in diesem Moment die Frage von Takao, der ebenso verschlafen wie Max hereingekommen war. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, man sah ihm an, dass er erst kurz zuvor aus dem Bett gestiegen war. „Ich mich von Mao“, wiederholte Rei, den Blick auf den Tisch gesenkt. „Oh“, machte Takao. Der Blonde, der sich von der ersten Überraschung ob dieser Nachricht mittlerweile schon erholt hatte, legte Rei die Hand auf den Arm. „Ist alles okay mit dir?“ Der Schwarzhaarige nickte, lächelte dankbar. „Ich denke schon. Ich habe mit Kai gesprochen und den ersten Schock, wieder Single zu sein, habe ich bereits überwunden.“ Kai lächelte daraufhin leicht in seinen Kaffeebecher. Rei sah das Lächeln trotzdem und erkannte, dass der Russe seinen Versuch, die Stimmung ein wenig zu lockern, gleich durchschaut hatte. Takao holte sich eine Schüssel und die Packung Cornflakes aus dem Schrank, stellte sie zu der Milch, die der Russe für seinen Kaffee schon herausgeholt hatte. „Weißt du, Mann... Mao sieht ja echt nicht schlecht aus und so, aber du brauchst jemanden, der ein bisschen...ausgeglichener ist.“ Er grinste und schlug Rei freundschaftlich auf die Schulter. Der Schwarzhaarige musste lachen, wenn auch ein bisschen widerwillig. Es waren Momente wie dieser, wie an diesem Samstagmorgen in der Küche, in denen er wieder einmal verstand, warum sie damals über weite Strecken ein so gutes Team gewesen waren und warum sie so oft zusammen gewonnen hatten. Er lächelte, als er Kais Blick traf, der leicht amüsiert auf ihm ruhte. Und er realisierte, dass eine Trennung fast immer einen neuen Anfang bedeutete. Wie auch immer dieser aussehen mochte. Kapitel 2: Regen ---------------- Kapitel 2: Regen Als sie von zu Hause losliefen, begann es gerade zu nieseln. Kai hatte einen skeptischen Blick gen Himmel geworfen, aber nichts gesagt, und Rei hatte seine Trainingsjacke bis nach oben hin zugezogen und sich einen Kommentar verkniffen. Schweigend setzten sie sich in Bewegung. Liefen sie zunächst langsamer, um warm zu werden, wurden sie bald schneller und verfielen in ein rasches, aber gleichmäßiges Tempo. Die beiden brauchten sich über die Strecke nicht zu verständigen. Dass sie zusammen laufen gingen, war zwar keine wöchentliche oder ähnlich regelmäßige Veranstaltung, aber es kam doch oft genug vor, dass sie wussten, welchen Weg sie beide bevorzugten. Nach etwa einer halben Stunde des Laufens über Bürgersteige und asphaltierte Straßen bogen sie in einen Feldweg ab, der bald darauf von Bäumen gesäumt wurde und in einen Wald überging. Obwohl der Regen, der beständig auf sie niederkam, fein war, waren sie beide inzwischen ziemlich nass. Allein die Tatsache, dass es sich um einen warmen Frühlingsregen handelte, ließ das Ganze nicht völlig unangenehm werden. Tief und ruhig hörte Rei den Atem Kais neben sich und der Schwarzhaarige genoss die stille Anwesenheit des anderen. Nach der Trennung von Mao, die mittlerweile schon einige Wochen zurücklag, fand er es schön, wieder viel mehr Zeit mit seinen Freunden zu verbringen; etwas, was er während ihrer Beziehung teilweise vernachlässigt hatte. Schon jetzt stellten sich so auch neue Gewohnheiten ein und Rei vermutete, dass bald auch das Laufen mit Kai eine solche und damit regelmäßiger werden würde. Noch während sie im Wald liefen, dabei den Blick auf den Boden gerichtet hatten, um nicht über Wurzeln und Steine des nur wenig befestigten Weges zu stolpern, kündigte es sich an, dass der Nieselregen zu einem ausgewachsenen Regenschauer werden würde. Waren sie anfangs durch die Blätter geschützter gewesen als auf der Strecke vorher, kamen nun immer mehr Tropfen durch das Blattwerk auf sie herunter. Dick perlten sie auf Haut und Kleidung von Kai und Rei ab, durchnässten sie aber schließlich doch. Rei verlangsamte sein Tempo, als sie sich dem Waldrand näherten und sehen konnten, dass der Regen auf freiem Feld wie in Bindfäden herunterkam. Schwarze Wolken waren am Himmel zu sehen, den sie vorher durch die Baumkronen kaum hatten ausmachen können. Es sah nicht danach aus, als wolle der Regen in absehbarer Zeit aufhören. Auch Kai wurde langsamer, nachdem er gemerkt hatte, dass der andere hinter ihm zurückfiel. „Lass uns hier im Wald warten, Kai“, meinte Rei, während er sich Wasser vom Gesicht wischte und dann von seinen Händen abschlug. „Hier ist es immerhin ein bisschen geschützter.“ Der Russe, der nun ebenfalls stehen geblieben war, stimmte zu, fügte mit resigniertem Ton an: „Ich bin zwar nicht sicher, ob dieser Regen heute noch mal aufhört, aber vielleicht wird es wenigstens etwas weniger.“ Er zupfte an seiner Wasser durchtränkten Trainingsjacke, die ihm wie all seine Kleidung eng am Körper klebte, zuckte dann mit den Schultern und begann, einige Dehnungsübungen zu machen. „Warten wir wenigstens ein paar Minuten ab. Ich habe wirklich keine Lust, bis auf meine Unterwäsche nass zu werden.“ Rei gesellte sich neben Kai und ahmte dessen Übungen nach. Schnell gab er dies jedoch auf, merkte er, wie unangenehm jegliche Bewegung in seinen nassen Kleidungsstücken war, nachdem er seine Laufbewegung einmal unterbrochen hatte. Stattdessen stellte er unter den letzten Baum am Wegesrand, bevor Felder und Wiesen den Wald wieder ablösten, und sah dabei zu, wie Abermillionen von Tropfen sich aus den Wolken ergossen. Als sich Kai neben ihn stellte, wandte der Schwarzhaarige kurz den Kopf, lächelte den anderen an. „Woran denkst du?“, fragte der Russe, der das Gefühl hatte, dass Rei nachdenklich wirkte. „Oh“, machte dieser. „Ich-“ Wenn er ehrlich war, hatte er an Mao gedacht. „Weißt du... Als ich kleiner war, habe ich immer gedacht, dass Mao und ich eines Tages ein Paar sein würden, und habe geglaubt, dass wir auch für immer eines bleiben würden. Ich habe nie länger darüber nachgedacht, warum auch, es schien alles so klar. Alle gingen irgendwie davon aus, dass wir irgendwann heiraten und eine zeitlang habe ich auch angenommen, Mao wäre meine große Liebe - oder wie auch immer man das sagen will.“ Kai nickte. „Schon okay. Ich weiß, was du meinst.“ Rei fuhr fort. „Jetzt weiß ich, dass ich doch nur irgendwann zumindest mal in Mao verliebt war, das schon, aber mehr auch nicht. Und das ist einfach ein bisschen deprimierend, weil ich mir als kleines Kind schon immer gewünscht habe, eines Tages die große Liebe zu finden und glücklich zu sein. So ein Kindertraum eben und-...“ „- jetzt hast du das Gefühl, dir jahrelang Illusionen gemacht zu haben?“, beendete Kai den Satz. Überrascht blickte der Chinese den anderen an, nickte dann mit einem schiefen Lächeln. Nach einem Moment des Schweigens, in dem sie beide hinaus in den Regen starrten, begann Kai zu sprechen. „Ich kann dir nichts dazu sagen, ob ich glaube, dass so was wie eine große Liebe existiert. Ich hab das immer eher für Wunschdenken gehalten, aber wie auch immer. Lass es auf dich zukommen, anstatt dir Gedanken darüber zu machen, ob du die große Liebe gefunden hast oder nicht - ob es sie überhaupt gibt.“ „Du meinst, ich würde nur meine Zeit vergeuden, wenn ich mich auf die Suche nach etwas mache, von dem ich nicht einmal weiß, ob es das wirklich gibt?“, fragte Rei nach. Kai nickte kurz. „Such dir eine Freundin oder auch nicht - Hauptsache, du weißt, dass es dir damit gut geht. Und wenn es keine große Liebe ist, dann hast du wenigstens eine schöne Zeit.“ Nachdenklich nickte auch Rei, bevor er grinste. „Ich wusste gar nicht, dass du so philosophische Ratschläge erteilen kannst.“ Kai sah den anderen an, wandte sich dann wieder dem Weg zu und warf noch über die Schulter: „Die kriegt auch nicht jeder von mir, klar?“ Der Schwarzhaarige lächelte ob dieser defensiven Reaktion in sich hinein. „Danke, Kai. Du hast mir sehr geholfen.“ „Kein Thema“, kam die Erwiderung, ohne dass Angesprochener sich umsah. „Kommst du dann? Es ist etwas heller geworden.“ Noch immer regnete es stärker als der Nieselregen, mit dem sie losgelaufen waren, aber da es in der Tat nicht so aussah, als würde sich in der nächsten Zeit etwas an der Situation ändern, konnten sie genauso gut weiterlaufen. Rei lockerte kurz seine Schultern, setzte sich in Bewegung und trabte an Kai vorbei. Dieser wurde augenblicklich ebenfalls schneller, so dass sie wieder gemeinsam nebeneinander herliefen, in den Regen hinaus. „Uh, sogar meine Socken sind mittlerweile nass“, teilte Rei nach den ersten Metern frustriert mit. „Ich freue mich jetzt schon auf die heiße Dusche zu Hause.“ Kai lachte leise und sie erhöhten zusammen ihr Tempo, um schneller dem Regen entflüchten zu können. Noch nasser als zuvor, wenn das überhaupt noch ging, erreichten sie schließlich ihr Appartement und hinterließen eine nasse Spur im Hausflur. Rei kramte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor, wandte sich jedoch noch einmal an den Russen, bevor er die Tür aufschloss. „Kai, ich-... Danke. Wegen eben. Ich hätte-“ Kai winkte ab, während er seine Füße aus den nassen Turnschuhen quälte, die Socken gleich mitabstreifte. „Wann laufen wir das nächste Mal?“, fragte er stattdessen. „Sobald es nicht mehr regnet“, erwiderte Rei grinsend und drehte den Schlüssel im Schloss. Kapitel 3: Urlaub ----------------- Kapitel 3: Urlaub Mit der Wahl des Urlaubsortes hatten sie die richtige Wahl getroffen. Heiß brannte die Julisonne seit Tagen auf sie nieder, nie war ein Wölkchen am Himmel zu erblicken; der Strand war nicht überfüllt und bot ihnen immer einen Platz, bei dem sie nicht das Gefühl haben mussten, ihren Nachbarn praktisch auf dem Handtuch zu sitzen; zu guter Letzt war das Hotel zwar nicht das komfortabelste (entsprechend dem, was ihre Studentengeldbörse hergab), zumindest aber sauber. Da sie die meiste Zeit bislang am Strand verbracht hatten, um sich vom Unistress zu erholen, hatten sie alle vier schon eine ordentliche Bräune. Die Hitze ließ allerdings kaum andere Unternehmungen als das faule Herumliegen und ein bisschen Schwimmen zu, weshalb sie sich auch an diesem Tag wieder in Richtung Sand und Meer aufmachten. Auf dem Weg dahin begann Takao wieder mit einem für Rei äußerst leidigen Thema. „Was haltet ihr von ihr da drüben? Braune Haare, blauer Rock?“ Diese Worte wurden von einer leichten Kopfbewegung in die entsprechende Richtung begleitet. Als Rei, Kai und Max synchron den Kopf in eben jene Richtung wandten, um die beschriebene junge Frau auszumachen, zischte Takao: „Shh. Guckt doch nicht alle auf einmal, das ist voll auffällig. Jetzt hat sie bestimmt gemerkt, dass ich über sie geredet habe.“ Unter dem Schutz seiner Käppi versuchte Takao, unauffällig auf die andere Straßenseite zu blicken, wo besagte Braunhaarige mit einer Freundin entlang lief. „Selbst wenn“, sagte Kai belustigt. „So hast du zumindest ihre Aufmerksamkeit.“ „Ach, halt die Klappe. Du hast doch keine Ahnung von Frauen.“ Takao wollte Kai spielerisch zur Seite schubsen, aber dieser wich grinsend aus. An Max und Rei gerichtet, fragte Kai scheinheilig: „Findet ihr nicht auch, dass sie irgendwie Ähnlichkeit zu Hiromi hat?“ Die beiden Angesprochenen lachten. Kai konnte es aber nicht lassen, noch einen drauf zu setzen. „Nur weil ich nicht auf Frauen stehe, heißt das übrigens noch lange nicht, dass ich auch keine Ahnung von ihnen habe, Takao.“ „Ja, ja, schon gut. Mach mich ruhig fertig.“ Aber Angesprochener grinste. Das, was sich gerade abgespielt hatte, war zu Reis Leidwesen kein Einzelfall gewesen. Ständig, so kam es ihm zumindest vor, wies Takao auf irgendwelche jungen, sehr hübschen Frauen hin und gerade an Rei gewandt fügte er meist noch eine Ermutigung hinzu, eine von ihnen doch anzusprechen. Er wusste, dass Takao es nur gut meinte und dachte, sich nach der Trennung von Mao Reis nicht existentem Liebesleben annehmen zu müssen. Seine schwarze Sonnenbrille zurechtrückend, seufzte Rei innerlich. Er wusste nicht, warum, aber seit er nicht mehr mit Mao zusammen war, hatte er nicht die geringste Lust verspürt, auch nur mit irgendwem zu flirten, geschweige denn, jemanden näher kennen zu lernen. Dementsprechend unangenehm waren ihm die Bemühungen Takaos. Am Strand angekommen, suchten sie sich einen Platz nahe am Wasser, so dass sie dorthin nicht weit laufen mussten. Rei breitete sein Handtuch neben dem von Kai aus, auf seiner anderen Seite machte es sich Max bequem. Den restlichen Strandtag überstand er unbehelligt von Takaos Bemerkungen. Wie üblich verbrachten sie viel Zeit im Meer, dessen sanfte Wellen in ihrer Bucht es ermöglichten, auch länger im kühlen Wasser herumzudümpeln. Sicherlich wären schäumende, große Wellen auch nicht schlecht gewesen, hätten eine Menge Spaß versprochen, aber diese erforderten doch immer volle Konzentration, damit man nicht unvorbereitet von den Füßen gerissen wurde. Rei war es so, wie sie es hatten, definitiv lieber und so genoss er mit seinen Mitbewohnern einen weiteren Tag eines völlig entspannenden Urlaubs... ...Wenn da nicht Takao gewesen wäre, der gleich am Abend einen neuen Versuch seiner Mission startete. An diesem Abend fand in einem der größten Hotels der Stadt eine Poolparty statt, zu der neben Urlaubern und Touristen auch viele Einheimische gekommen waren. Der Pool selbst war ansprechend beleuchtet, während die Lampen rings herum eher spärlich gehalten waren, was dazu führte, dass das Wasser in leuchtendem Hellblau aus der Dunkelheit der Nacht herausstach. Im Eingangsbereich des Hotels waren ein Büffet und Getränke aufgebaut, zudem waren überall Tische und Sitzgruppen aufgestellt worden, die auch schon größtenteils besetzt waren, als die vier bei der Veranstaltung auftauchten. Rei sah, wie Kai sich noch etwas missmutig umschaute, als sie zu einer noch freien Sitzmöglichkeit vorstießen. Den Russen hatten sie überreden müssen, überhaupt mitzukommen, denn dieser hatte bei der Poolparty mit einer steifen Angelegenheit gerechnet, zu der jeder, der einen Namen auf sich hielt, aufgetakelt erscheinen und höfliche Konversation austauschen würde. Obwohl sie in ein, zwei Bars bereits eine solche Erfahrung gemacht hatten und dort schnell wieder verschwunden waren und die Vermutung Kais deshalb gar nicht so weit hergeholt schien, hatten sie diesmal Glück. Im Pool und am Rand desselben tummelten sich Leute in normalen Schwimmsachen, durchaus tanzbare Musik erklang aus Lautsprechern, die Rei noch nicht hatte sichten können, und die Stimmung war entspannt und ausgelassen. „Siehst du, Kai“, meinte Max, als er auf einem hohen Hocker an einer Art Stehtisch Platz nahm, „es ist gar nicht so schlimm, wie du gedacht hast.“ „Ganz im Gegenteil“, warf Takao ein, sah sich zufrieden um. Einen Moment später erbot er sich, Getränke holen zu gehen, und Max sprang auf, um ihn zu begleiten. Es war für Rei offensichtlich, dass sie die Gelegenheit nutzen würden, sich noch weiter umzusehen. Als eine Gruppe lachender und lärmender junger Menschen an dem Tisch, an dem auch Kai und Rei sich hingesetzt hatten, vorbeigezogen war, wandte sich Letzterer an Kai. „Es ist doch wirklich okay hier, oder?“ „Ja, stimmt schon“, gab Kai zu, fügte dann grinsend hinzu: „Ich muss euch wohl aufrichtig dankbar sein, dass ihr es mal wieder geschafft hat, mich zu überreden, was?“ Rei lachte. „Es reicht schon, dass du einfach gute Laune hast.“ Kurze Zeit später kamen ihre beiden jüngeren Mitbewohner mit Getränken zurück, alkoholisch, wie Rei schnell bemerkte. Vielleicht war dieser Alkoholgehalt der Grund, aus welchem er nicht skeptisch wurde, als Takao sich später ein zweites Mal anbot, etwas zu trinken zu besorgen, wo dieser doch normalerweise immer darauf achtete, dass er nicht mehrmals mit einer Aufgabe an der Reihe war. Diesmal brachte er nicht nur Getränke mit, sondern auch eine junge blonde Frau. Rei konnte die beiden vom Pool her über die Wiese auf ihren Tisch zukommen sehen, doch als ihm dämmerte, warum Takao sie mitbrachte, war es zu spät, um die Flucht anzutreten. „Das hier ist Maari“, stellte Takao vor, während er die Gläser abstellte, „und das sind meine Freunde“ - er wies jeweils mit einer kurzen Handbewegung auf den Betreffenden - „Kai, Max und Rei. Von Rei habe ich dir ja schon erzählt.“ Er zwinkerte, woraufhin Rei innerlich stöhnte. Maari lächelte und begrüßte alle. Rei brachte es nicht über sich, sie zu ignorieren, wie er es am liebsten getan hätte, brachte stattdessen ein angestrengtes Lächeln auf die Lippen und schüttelte ihre Hand mit einem „Freut mich“. Als sie jene Hand jedoch gleich darauf auf seinem Oberschenkel ablegte und diesen unter dem Tisch entlang strich, gefror ihm selbst das aufgesetzte Lächeln. Ohne darauf zu warten, ob die anderen am Tisch etwas mitbekommen hatten, ergriff er die Hand des Mädchens und nahm diese bewusst von seinem Bein fort. Er hatte gehofft, dass ihm dies erspart bliebe, aber jetzt war es soweit gekommen, dass er ein paar klare Worte mit Takao wechseln musste. Zuerst musste er jedoch Maari noch loswerden. Mit großen Augen blickte diese ihn an, nachdem er ihr mit dem Lösen ihrer Hand eine so deutliche Abfuhr erteilt hatte. Einmal kurz die Augen schließend, wappnete sich Rei für das Kommende. „Es tut mir Leid, Maari“, sagte er. „Ich weiß nicht, was mein Freund dir erzählt hat, aber ich habe wirklich kein Interesse.“ Ihr seinen Drink in die Hand drückend fuhr er fort: „Nimm das als Danke fürs Mitkommen hierher und geh wieder zu deinen Freunden zurück, okay?“ Ohne das Getränk mit einem Blick zu würdigen, sagte sie schnippisch: „Hat mich auch gefreut.“ Takao einen nicht gerade freundlichen Blick zu werfend, rauschte sie ab. Rei atmete aus, während er seinen Ellbogen auf der Tischplatte absetzte und seinen Kopf mit seiner Hand stützte. Offensichtlich noch immer nicht ganz begriffen, was gerade in so rascher Folge geschehen war, fragte Takao: „Was war das?“, hängte einen Augenblick später ein „Was ist denn mit dir los, Rei?“ daran. Auch Kai und Max sahen den Schwarzhaarigen an, warteten auf dessen Antwort. „Ich habe einfach keine Lust auf so was im Moment. Ich-...“ Rei dachte an das, was Kai ihm über die Suche nach der Großen Liebe gesagt hatte. Ihm war bewusst geworden, dass er sich momentan noch keine neue Freundin wünschte und auch keine Affäre oder sondergleichen. So, wie es war, ging es ihm gut, und er wollte zunächst etwas Abstand zu seiner Beziehung mit Mao gewinnen, bevor er sich weiter um die Beantwortung von essentiellen Fragen des Lebens kümmerte. „...Ich weiß den Gedanken zu schätzen, den du hattest, Takao, aber ich fände es schön, wenn du nicht noch weitere Frauen anschleppst.“ Er grinste schief. „Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Wenn ich wieder bereit für so was wie eine Beziehung bin, gebe ich Bescheid. Gerade aber - lieber noch nicht.“ Takao nickte, etwas betreten. „Sorry, ich... Geht klar, Rei.“ „So“, begann Max, „wie wäre es, wenn wir uns endlich unseren Drinks widmen und weiterquatschen?“ „Das klingt gut“, erwiderte Rei lächelnd, einen kurzen Blick mit Kai tauschend. Jetzt konnte er den Urlaub so richtig genießen. Kapitel 4: Herbst ----------------- Kapitel 4: Herbst Der Regen peitschte gegen die Fenster, der Wind heulte und rüttelte unerbittlich an den Fensterrahmen. Draußen wogten die Bäumen im Sturm, bogen sich manchmal gefährlich weit zur Seite, es schien jedes Mal, als würde einer ihrer Äste in jenem Windstoß brechen. Rei saß mit einem Buch, das er für die Uni lesen musste, vor der Heizung, in der Hoffnung, seine mehr als feuchten Haare ein wenig zu trocknen. Trotz der Sturmwarnung, die für diesen Nachmittag heute Morgen im Radio gesendet worden war, hatte Rei sich nachmittags noch nach draußen begeben, weil er einen Arzttermin gehabt hatte. Die Folge dieses unfreiwilligen Spaziergangs durch Wind und Regen waren tropfnasse Haare und triefende Kleidung gewesen, weil sich das Aufspannen einen Regenschirms aufgrund der Windböen als unmöglich gestaltet hatte. Er genoss es nun, nicht mehr dem ungemütlichen Wetter draußen ausgesetzt zu sein und wieder trockene Kleidung zu tragen. Die Wärme der Heizung drang angenehm durch seinen Pullover und er roch den vertrauten Geruch des Waschmittels, welcher aus dem frischen Pullover emporstieg. Er hatte diesen Geruch schon immer gemocht, weil er sich auf gewisse Art und Weise zu Hause fühlte, wenn er diesen wahrnahm. Als die Lampen das erste Mal flackerten, hob Rei kurz den Blick und sah zu diesen hinauf. Doch das Licht hatte sich bereits normalisiert und Rei wandte sich mit einem leichten Kopfschütteln wieder seiner Lektüre zu. Einige Minuten konnte er ungestört lesen, machte sich zwischenzeitlich Notizen auf einem seiner Schreibblöcke der Uni. Dann flackerte das Licht erneut, diesmal für einen Moment länger als beim vorherigen Male. Dies veranlasste den Schwarzhaarigen dazu, mit einem Finger die Seite in seinem Buch zu markieren, bevor er selbiges zuklappte und dann erst einen skeptischen Blick zur Deckenlampe warf, schließlich fast besorgt aus dem Fenster sah. Draußen wütete und toste der Sturm unvermindert und Rei vermutete stark, dass er die Ursache für die Elektrizitätsprobleme darstellte. Und noch ehe Rei sich wieder seinem Buch zuwenden konnte, wurde es im Zimmer auf einmal schwarz; das war Licht komplett ausgefallen. Auch die Straßenlampen draußen waren erloschen, kein Lichtschein drang ins Zimmer. Leicht genervt aufseufzend stand der Schwarzhaarige auf, nachdem er seine Utensilien abgelegt hatte, und begann, sich durch den Raum zu tasten. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die plötzliche Dunkelheit, so dass kaum Schemen erkennbar waren. Da Rei nicht wusste, wie lange der Stromausfall andauern würde - flüchtig hoffte er, es würden nicht Stunden sein -, machte er sich also auf den Weg in die Küche, wo sie Kerzen aufbewahrten. Gerade den Flur betreten, hörte er raschelnde Geräusche, die er jedoch nicht zuordnen konnte. Er machte einen weiteren Schritt nach vorn, wollte zu einem fragenden „Kai?“ ansetzen, als er völlig unvorbereitet mit etwas Großem zusammenstieß. Ein erschrockenes „Woah“ ersetzte Reis vorherigen Ansatz und traf mit einem gedämpften Stöhnen einer weiteren Person zusammen. „Rei, bist du das?“, kam dann Kais dunkle Stimme. Angesprochenen traf es trotz des Zusammenstoßes, den er einen Moment zuvor offenbar mit Kai gehabt hatte, überrascht, wie nah Kais Stimme ihm war, bejahte die Frage aber einen Moment später. Er streckte die Hand vorsichtig nach dem anderen aus, um nicht noch einmal in diesen hineinzulaufen, aber statt des erwarteten Stoffes fühlte Rei plötzlich warme Haut unter seinen Fingern. Verwundert tastete er automatisch etwas weiter, bis Kai ihn unterbrach, indem er sagte: „Nimm die Finger von meinem Bauch weg! Das kitzelt.“ Er klang amüsiert. Rasch zog der Chinese seine Hand weg. „Wieso hast du kein Hemd an?“, fragte er. „Ich habe Sit-Ups gemacht“, erklärte Kai, während er schon begann, sich unter weiteren Raschelgeräuschen den Flur entlangzutasten. Rei folgte ihm langsam, auch wenn er mittlerweile mehr erkennen konnte, weil seine Augen sich mehr und mehr an die Dunkelheit gewöhnten. In der Küche angekommen hatte Kai es sich nicht nehmen lassen, den Lichtschalter der Deckenlampe zu betätigen, um zu sehen, ob das Licht inzwischen nicht vielleicht doch wieder funktionierte. Nachdem sich dies als vergebens herausgestellt hatte, waren mehrere Teelichter und eine dickere Kerze schnell gefunden. Als Problem stellte sich jedoch heraus, dass sie anders als für die Kerzen keinen festgelegten Ort für ein Feuerzeug hatten. Diese lagen bei ihnen generell immer da herum, wo sie das letzte Mal jemand verwendet hatte. Über eben diese Tatsache fluchend war Kai bereits gegen einen Stuhl gelaufen, als er eigentlich den Tisch nach dem Feuerzeug hatte absuchen wollen. Rei hatte sich zwar noch nicht gestoßen, war jedoch ebenso erfolglos dabei gewesen, den begehrten Gegenstand ausfindig zu machen. „Sobald wir wieder Licht haben, werde ich festlegen, wo wir ab sofort und für alle Zeiten unsere Feuerzeuge zu deponieren haben“, brummte Kai, was bei Rei trotz allem ein Lachen auslöste. Obwohl sie mittlerweile die meisten Strukturen im Raum sehen konnten, war ein Feuerzeug viel zu klein, als dass sie es mit ihren Augen hätten ausmachen können. So tasteten sich die beiden weiter über alle Ablagen und Schubladen in ihrer Küche, wussten sie, dass es hier irgendwo ein Feuerzeug geben musste. „Ich weiß, dass ich es vor ein paar Tagen noch benutzt habe. Aber wer weiß, ob Takao oder Max es seit dem nicht nochmal hatten.“ Frustriert setzte sich Rei auf den Stuhl, der ihm am nächsten stand. „Das ist unwahrscheinlich, da die beiden seit Samstag im Dojo sind.“ „Stimmt auch wieder. Ich kann mich einfach nicht erinnern, wo ich das blöde Teil hingelegt haben könnte.“ Kai antwortete nicht sofort; Rei hörte ihn jedoch kurz darauf näher kommen und sah dann auch Kais dunkle Gestalt, die vor ihm stehen blieb und sich zu ihm hinunterbeugte. Noch bevor er das schabende Geräusch, das erklang, hatte einordnen können, blickte er in das vom Kerzenschein erleuchtete Gesicht des anderen. Zwischen ihnen flackerte ein Teelicht, das Kai ihm mit einem Lächeln hinhielt. „Ich kann dir jetzt sagen, wo du es hingetan hast - auf die Fensterbank neben den Blumentopf.“ „Frag mich bloß nicht, warum ich es ausgerechnet da hingelegt habe. Ich weiß es nämlich selbst nicht“, antwortete Rei grinsend. Kai richtete sich auf, machte sich dann daran, die eben auf dem Tisch abgestellten Kerzen der Reihe nach anzustecken. Während Rei die züngelnden Flammen der Teelichter betrachtete, stellte er fest, wie gemütlich es hier im Kerzenschein war, wo draußen noch immer der Sturm heulte. Bei der Suche nach dem Feuerzeug hatte er die Geräusche des Windes und des Regens kaum noch wahrgenommen, war viel zu beschäftigt gewesen. Doch nun hörte er sie wieder und konnte noch immer keine Verminderung des Unwetters feststellen; auch nicht, als er genauer horchte. Kai setzte sich nach beendeter Aufgabe zu ihm an den Tisch und Rei wandte den Blick von den Kerzen, sah zu dem anderen. Das kleine Licht malte sanfte Schatten auf dessen Gesicht, welche dessen Züge weicher wirken ließ. Einen Moment war er völlig vom Spiel der Schatten auf der blassen Haut Kais fasziniert, betrachtete besonders die Schattenlinien, die an dessen Wangenknochen verliefen und deren Kanten hervorhoben. Das Licht der Lampe, die über ihnen flackernd wieder anging, riss ihn abrupt davon los. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein“, sagte Kai missvergnügt. „Nach all dem Aufwand, den wir betrieben haben, um ein Feuerzeug aufzutreiben...“ Aber Rei dachte an das Licht der Kerze zwischen ihnen zurück und war froh, zumindest diesen Anblick nicht verpasst zu haben. Kapitel 5: Schlaf ----------------- Kapitel 5: Schlaf Als Rei aufwachte, fühlte er sich noch immer wie erschlagen. Gliederschmerzen zogen sich durch seinen ganzen Körper und ihm war bitterkalt, obwohl er die Decke bis zu seinem Kinn hochgezogen hatte. Mühsam stützte er sich auf seinen Ellbogen, um an das Glas Wasser auf seinem Nachttisch zu gelangen. Durstig nahm er mehrere Schlucke, ließ sich danach erschöpft zurücksinken. Jede Bewegung strengte ihn unglaublich an. Seine Augenlider waren schon wieder schwer und brannten, obwohl er den ganzen Tag nichts anderes getan hatte als schlafen. Resigniert schloss er die Augen und es dauerte nur Momente, bis der Schlaf ihn wieder übermannte. Das nächste, dessen Rei sich bewusst war, war eine unerträgliche Hitze. Sie war über seine Haut bis tief in seine Knochen gekrochen und hatte sich dort eingenistet. Rei wandte sich unter den pulsierenden Wellen, die durch seinen Körper liefen. Flammen züngelten an ihm, leckten mit ihren blauen Zungen an ihm, hüllten ihn ein. Rei rollte sich zusammen, um dem Feuer zu entkommen, verbarg seine Haare unter seinen verschränkten Armen. Schweiß brach auf seinem Körper aus und Rei konnte nicht mehr entscheiden, ob Hitze oder Angst die Ursache war. Das Feuer schien kein Ende zu nehmen, es brannte und nagte an ihm. Es zehrte so sehr von seinen Kräften, dass er zuerst gar nicht bemerkte, dass irgendwann langsam Milderung eintrat. Die Flammen verloren an Hitze, wurden zurück gedrängt von etwas, was sich anfühlte wie die sanfte Berührung einer kühlen Hand auf seiner Stirn. Rei merkte, wie angespannt er gewesen war, als sich mit verebbender Hitze Entspannung einstellte. Er fand eine neue Position, die nicht erforderte, dass er sich einrollte oder sich mit seinen Armen schützte, welche jetzt locker neben seinem Körper zu liegen gekommen waren. Und endlich merkte er, wie er in einen tiefen erholsamen Schlaf fiel, der keinen Raum mehr ließ für wirre Träume und unruhiges Hin- und herwälzen. Als Rei ein zweites Mal aufwachte, fühlte er sich schon besser. Das Aufsetzen bereitete seinem Körper keine Schmerzen mehr und er fühlte sich leicht. Durch die zugezogenen Gardinen drang Sonnenlicht ins Zimmer, was Rei zeigte, wie lange er geschlafen haben musste. Jedoch – zugezogene Gardinen? Rei kniff die Augen zusammen, versuchte sich zu erinnern, ob er die Gardinen zugemacht hatte. Er war sich fast sicher, sie nicht selbst vorgezogen zu haben, aber wer hätte es sonst tun sollen? Sicherlich war die Erinnerungslücke nur seinem Fieber zuzuschreiben. Langsam die Beine aus dem Bett schiebend, stand Rei auf. Sie fühlten sich noch ein wenig wackelig an. Eine Dusche, entschied er, war genau das richtige, um den Geruch von Krankheit von sich zu waschen. Zum Abendessen ging Re zum ersten Mal seit Tagen wieder in die Küche, um dort mit den anderen gemeinsam zu essen. Während Max und Takao sich laut über ihre Pläne für den folgenden Tag unterhielten, beugte Rei sich unauffällig zu Kai hinüber. „Kai?“, fragte er gedämpft. „Warst du irgendwann bei mir im Zimmer und hast – vielleicht, ich meine, an meinem Bett gesessen oder so?“ Angesprochener schaute ihn mit einem Ausdruck in den Augen an, den Rei nicht zu deuten vermochte und sagte dann: „Nein. Wie kommst du drauf?“ „Ach... Ich dachte nur...“, begann Rei, schüttelte den Kopf und lächelte flüchtig. Kapitel 6: Wollust ------------------ Kapitel 6: Wollust Erschöpft schlängelte sich Rei von der Tanzfläche, schob sich durch die Masse in Richtung der Bar, in der Hoffnung, dort etwas Kühles zu Trinken zu bekommen. Es war brechend voll an diesem Abend im Club, dicht an dicht drängten sich die Menschen, bewegten sich mal mehr, mal weniger zur Musik, die durch den Raum schallte. Als Rei sich endlich bis zur Bar durchgekämpft hatte, bestellte er einen Tequila, und setzte sich auf einen der Barhocker, der gerade zu seinem Glück frei geworden war, um einen Moment zur Ruhe zu kommen. Nachdem er das Pinchen mit der transparentgoldenen Flüssigkeit hinuntergekippt hatte, hielt er in der Menge nach einem auffälligen graublau gefärbten Haarschopf Ausschau, den er jedoch im Gedränge und im wechselnden, grellen Licht nicht ausmachen konnte. Er war vor Stunden mit Kai zusammen gekommen, doch Rei hatte sich sehr bald in den Pulk der Tanzenden begeben, hatte erst mal alles um sich herum vergessen, während er seinen Körper im Rhythmus der Musik bewegte, und hatte Kai völlig aus den Augen verloren. Jetzt entschied er, einen Moment nach draußen zu gehen, da ihm vom Tanzen immer noch heiß und der Platz an der Bar zu unruhig war, da sich ständig Menschen an ihm vorbeidrängelten, die ihrerseits ein erfrischendes Getränk kaufen wollten. Auf dem Weg in Richtung Ausgang lichtete sich die Menge ein wenig, doch vermutlich wäre Reis Blick trotzdem nicht in jene dunkle, unscheinbare Ecke gefallen, hätte ihn nicht jemand angerempelt und ihn so dazu gebracht, sich nach dem Übeltäter umzusehen. Als er dabei zufällig erkannte, wer sich in den Schatten der Ecke befand, in die sein Blick fiel, erstarrte er. Er wusste zwar, dass Kai im Gegensatz zu ihm selbst nur auf Männer stand, hatte dies aber noch nie mit eigenen Augen gesehen, weil Kai sehr diskret war. Nun konnte er den Blick nicht von dem sich bietenden Anblick lösen. Kai hielt einen dunkelhaarigen Mann gegen die Wand gepresst, küsste diesen nicht gerade zurückhaltend. Eine seiner Hände hielt den Fremden an der Schulter fest, die andere lag fast beiläufig im Schritt desselben. Rei konnte nicht aufhören zu starren, spürte beginnende Erregung auch in seinem Unterleib. Er war ein wenig überfordert mit der Welle von unterschiedlichen Empfindungen, die ihn überschwemmte. Eben jene Erregung; Verlangen, sich an der Stelle des Fremden wieder zu finden, Kais Hand auf seinem Körper zu finden und Kais Mund auf seinen Mund gepresst zu fühlen; ein kleiner Stich Eifersucht, fast zu klein, um Rei das Gefühl als solches identifizieren zu lassen; Abstoßung sich selbst gegenüber, dass er hier stand und seinen besten Freund in einem solchen Moment beobachtete. Mühsam wandte er seinen Blick ab, zwang sich, weiterzugehen und die wenigen Meter in Richtung Ausgang zurückzulegen. Er drängte sich durch die Menge, die im Eingangsraum trotz der fortgeschrittenen Stunde noch immer versammelt war. Nachdem er an den Türstehern vorbei ins Freie getreten war, ging er um die nächste Hausecke des Clubs, wo er einen Moment allein sein konnte. Es war ziemlich kalt draußen und er konnte seinen Atem als weiße Wölkchen vor sich sehen. Die frische Winterluft tat jedoch gut, sein Kopf und seine Gedanken wurden wieder klarer. Vorher hatte Rei sich leicht benebelt gefühlt; die verrauchte, stickige Luft des Clubs, das Dröhnen der Bässe, die Hitze und der Alkohol hatten ihren Beitrag geleistet, dass der Schwarzhaarige sich etwas neben sich stehend gefühlt hatte. Doch selbst die Tatsache, dass er nun klarer denken konnte, konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken unentwegt um das schwirrten, was er vor wenigen Minuten in jener dunklen Ecke beobachtet hatte. Es war nicht unbedingt das, was er gesehen hatte, was ihn so sehr aus der Bahn geworfen hatte (selbst wenn auch das ihn geschockt hatte), sondern vielmehr seine eigene Reaktion darauf. Er hatte Kai oft genug in Boxershorts und auch nackt gesehen und natürlich festgestellt, dass dieser einen gut gebauten, muskulösen Körper besaß, aber noch nie zuvor hatte sein eigener Körper so darauf reagiert. Das plötzliche Verlangen, dass bei dem Anblick Kais in ihm hochgewallt war, hatte ihn völlig überrascht und ihn mit einem merkwürdigen Gefühl von Verletzlichkeit zurückgelassen. Es machte ihm auch bewusst, dass die Beziehungsunlust, die er vor wenigen Monaten noch verspürt hatte, offenbar verschwunden war. Damals hatte er nicht nur keine Beziehung gewollt, sondern war einfach wenig daran interessiert gewesen, jemand anderem auf welche Weise auch immer näher zu kommen. Wie er gerade am eigenen Leib hatte feststellen müssen, war dies nun nicht mehr der Fall. Während Rei draußen damit kämpfte, dass er sich wieder wie ein Teenager mit Hormonüberschuss fühlte, war Kai drinnen schon längst wieder allein unterwegs. Wäre Rei nur wenige Augenblicke länger stehen geblieben, hätte er gesehen, wie Kai den anderen Mann unvermittelt stehen gelassen hatte – realisierend, dass das, was als rein sexuelle Befriedigung gedacht gewesen war, sich in diesem Moment zu leer anfühlte und ihn mit einem größeren Gefühl von Unzufriedenheit zurücklassen würde, als jenes, mit dem er gekommen war. So kam es, dass der Schwarzhaarige von Kai draußen gefunden wurde, weil er sich, obwohl er mittlerweile fror, noch immer nicht in der Lage gefühlt hatte, wieder in den Club zu gehen und die dunkle Ecke zu passieren. Als Rei den Russen vom Eingang aus näher kommen sah, bemühte er sich, sich möglichst normal zu verhalten. Kai merkte ihm offenbar trotzdem an, dass er noch immer völlig durcheinander war. „Alles klar, Rei?“, war seine erste Frage. „Alles bestens.“ Angesprochener nickte bekräftigend. „Alles klar, wirklich. Mir war es nur ein bisschen...warm drinnen.“ Der andere zog die Augenbrauen skeptisch hoch, sagte jedoch nichts. Rei selbst war jedoch in dem Moment seines Zögerns aufgegangen, dass er nicht mit Kai über das würde reden können, was ihn beschäftigte. Wenn sonst irgendetwas gewesen war, hatte er sich immer an den Russen wenden können, hatte zwar nur selten einen Ratschlag, aber doch immer die ungeteilte Aufmerksamkeit Kais erhalten – doch diesmal war das anders, war Kai selbst der Gegenstand seiner Gedanken. Und er würde dem anderen nicht sagen können, wie er sich gefühlt hatte. Das erste Mal seit langem war etwas geschehen, womit er sich nicht an seinen besten Freund wenden konnte, weil dies beinhaltet hätte, diesem mitzuteilen, welche Reaktion der Anblick seines Körpers in ihm auslöste. Und das war keine Option. Kapitel 7: Winter ----------------- Kapitel 7: Winter Da sie alle keine eigenen Schlittschuhe besaßen, hatten sie jeder ein Paar ausgeliehen, saßen nun auf einer der Holzbänke am Rand der Open-Air-Eisbahn und versuchten, ihre Füße in eben jene Schlittschuhe zu zwängen. Während Kai schon die Schnürsenkel festzurrte, schimpfte Takao noch immer über sein vermeintlich zu enges Paar. „Du musst die Schuhe schon ein bisschen aufschnüren, Takao“, meinte Rei belustigt, zog seine Handschuhe über, nachdem auch er mit seinen Schuhen fertig geworden war und sich aufgerichtet hatte. Er trug, ebenso wie die anderen drei auch, zusätzlich zu den Handschuhen, die beim Schlittschuhfahren im Falle eines Sturzes ein Muss waren, einen Schal und eine warme Norwegermütze. Obwohl man sich beim Eislaufen natürlich bewegte und sich so erhitzte, war dies nicht genug, um den eisigen Graden zu trotzen, die das Schlittschuhlaufen unter freiem Himmel erst ermöglichten. Max war aufgestanden, machte einige experimentelle Bewegungen auf dem Eis und lachte, als er sich dabei fast auf die Nase legte. „Es ist wohl doch zu lange her, dass ich Schlittschuhlaufen war. Aber es ist sicherlich toll, wenn man sich wieder ein bisschen dran gewöhnt hat.“ Er machte Anstalten eine Art Pirouette zu drehen und wurde nur von Kai, der sich wartend schon mal auf dem Eis platziert hatte, durch einen raschen Griff in seine Jacke daran gehindert, sich diesmal tatsächlich hinzulegen. „Ich glaub's nicht“, sagte Kai augenverdrehend, wandte sich zu Takao und Rei, um zufrieden festzustellen, dass die beiden nun auch die Eisbahn betreten hatten. Als der blonde Amerikaner sich einigermaßen in seiner Position stabilisiert hatte, wartete Kai nicht mehr länger, setzte sich abwechselnd auf dem rechten und linken Fuß gleitend in Bewegung. Es war schon länger her, dass er Eislaufen gewesen war, hatte aber während seiner Kindheit in Russland zuviel Zeit damit verbracht, als dass er hätte verlernen können, wie es ging. Neben dem Bladen war Schlittschuhlaufen immer eine der Sachen gewesen, die Kai wirklich gern gemacht hatte - wenn er diese Tatsache auch ziemlich unter dem Tisch hielt. So oder so war diese der Grund dafür gewesen, dass die anderen ihn nicht lange hatten bitten müssen, als sie Überlegungen zu einem „Ausflug zu viert“ angestellt hatten. Kai machte bald ausholendere Gleitschritte, umfuhr ein Pärchen und mehrere kleine Kinder in großem Bogen. Es dauerte nicht lang, bis er sich wieder vollständig an das Gefühl gewöhnt hatte, statt normaler Schuhe Kufen unter den Füßen zu haben, und dann genoss er dieses. Schnell legte er so eine Runde auf der Schlittschuhbahn zurück und holte seine drei Freunde von hinten ein. Takao und Max hatten noch mehr Schwierigkeiten als Rei, sich auf den Kufen zu bewegen; insgesamt fuhren sie alle wesentlich langsamer als er selbst. Trotzdem schienen alle drei Spaß bei der Sache zu haben, so dass Kai sich lächelnd neben ihnen einreihte. „Huh, Kai“, sagte Rei, an dessen Seite er aufgetaucht war, und fuhr einen Moment etwas wackelig. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut und schnell Eislaufen kannst“, fügte er hinzu, bevor er Takao und Max, die gerade wenig erfolgreich versucht hatten, zu zweit rückwärts zu fahren und dabei leicht die Fahrtrichtung aus den Augen verloren hatten, gerade eben noch ausweichen konnte. Während die beiden weiter herumalberten, hatte Kai sein Tempo dem Reis angepasst und sie fuhren nun nebeneinander her. „Ich bin als kleines Kind oft gefahren. Nach der Schule oder nach dem Training - wie immer gerade Zeit war“, erklärte Kai. „Ich hätte schon viel früher mal wieder Schlittschuhlaufen gehen sollen...“ Rei lachte. „Und wir haben uns schon gewundert, wie schnell du unserem Vorschlag zugestimmt hast. Dabei bist du hier der heimliche Profi und sagst uns nichts.“ Um nicht weiter auf seine Beweggründe eingehen und eventuell zugeben zu müssen, dass es ihm aus irgendeinem komischen Grund peinlich war, dass er das Eislaufen so sehr mochte, fasste Kai nach der Hand Reis. „Komm, ich nehme dich ein Stück mit - dann kannst du auch mal schneller fahren“, sagte er. Angesprochener schien einen Moment zurückhaltend, fast, als wolle er seine Hand wieder aus der Kais ziehen, nickte aber schließlich doch. Er fasste Kais Hand fester und dieser setzte sich in Bewegung. Es dauerte einige Zeit, bis sie genug Schwung hatten, um beide etwas schneller fahren zu können, aber dann hatte Rei sich auch an den Rhythmus von Kais gleitenden Schritten gewöhnt und sie drehten zusammen einige Runden auf der Eisbahn. Eben hatte Kai sich noch gewundert, wie zögerlich der Schwarzhaarige gewesen war, als er seine Hand genommen hatte, hatte sich gefragt, ob es daran lag, dass Rei eigentlich doch gar nicht so viel Spaß am Eislaufen hatte, wie er kurz vorher noch den Eindruck gehabt hatte. So achtete er genauer auf das Verhalten des anderen, während sie fuhren. Ihm fiel auf, dass Rei ihm ab und an einen Seitenblick zuwarf, den er nicht deuten konnte. Da sich Rei dieser Blicke aber selbst kaum bewusst zu sein schien und er keinen weiteren Hinweis zu seinen Überlegungen zu Reis Reaktion entdecken konnte, tat Kai das Ganze schließlich ab und konzentrierte sich wieder voll und ganz auf das Eislaufen. Kapitel 8: Anziehung -------------------- Kapitel 8: Anziehung Mit Vorfreude öffnete Rei die Klappe des Backofens, woraufhin ihm eine neue Welle des süßlichen Geruchs frischgebackener Plätzchen in die Nase stieg. Bewaffnet mit zwei Topflappen holte er das obere Blech heraus und stellte es auf die Anrichte. Nach einem Blick auf das zweite Blech im Ofen befand Rei, dass dieses ruhig noch einige Minuten weiter drin bleiben konnte. So nahm er das bereits entnommene Blech, schüttete die Plätzchen von diesem auf ein großes Holzbrett, damit sie schneller abkühlen würden. Besagtes Blech selbst ließ er zum Abkühlen auf dem Herd stehen. Da er die Küche bereits aufgeräumt hatte, während das Gebäck noch im Ofen goldbraun gebacken worden waren, setzte er sich nun mit einem Buch an den Küchentisch, um die weitere Wartezeit zu überbrücken. Abgesehen vom leisen Gedudel des Radios, das im Hintergrund lief, war die Wohnung angenehm still - Rei war allein zu Hause und hatte diese Zeit wohlweislich genutzt, ungestört Kekse zu backen. Im anderen Falle hätte der Plätzchenduft wohl schnell seine anderen Mitbewohner in die Küche gelockt. Normalerweise freute er sich immer über deren Gesellschaft, aber beim Backen hatte er gern seine Ruhe. Als er gerade das zweite Blech ebenfalls aus dem Ofen geholt hatte, da es sich bei einem Blick darauf als höchste Zeit dafür erwiesen hatte, hörte er Schritte im Flur. Einen Augenblick später steckte Kai den Kopf durch die Küchentür und betrat den Raum dann ganz, während er Rei begrüßte. „Das riecht lecker“, bekundete er, sah dabei zu, wie Rei die Kekse zu den bereits Abkühlenden legte. „Ich hoffe, sie schmecken auch genauso“, erwiderte Rei lächelnd. „Wenn du einen Kaffee kochst, können wir die ersten Kekse gleich probieren.“ Kai nickte und begab sich zur Kaffeemaschine. Nur wenige Minuten später saßen sich die beiden am Küchentisch gegenüber, zwischen ihnen zwei Becher voll Kaffee und ein kleiner Teller mit noch leicht warmen Plätzchen. Sie probierten diese, tauschten dabei die aktuellsten Neuigkeiten und Ereignisse in der Uni aus. Rei war mit seinen Keksen sehr zufrieden und auch Kai hatte bestätigt, dass die Gebäckteilchen in der Tat so lecker schmeckten, wie sie gerochen hatten. Daneben genoss der Schwarzhaarige es sehr, so mit Kai in der behaglichen Küche zu sitzen, sich mit ihm zu unterhalten. Er stellte jetzt fest, dass ihm häufigen Gespräche mit Kai, die seit dem Clubbesuch weniger geworden waren, wirklich gefehlt hatten. Er hatte das Gefühl gehabt, dass ihre Beziehung etwas distanzierter geworden war, seitdem er sich in diesem Club auf einmal damit konfrontiert gesehen hatte, Kais Körper mit ganz anderen Augen zu sehen. Dass dies zum Großteil an ihm selbst lag, wusste Rei. Es fiel ihm schwer, sich dem anderen gegenüber normal zu verhalten, wenn er gleichzeitig anzügliche Gedanken bezüglich Kai hegte, die ihm so falsch und unpassend schienen. Inzwischen hatte er sich jedoch damit abgefunden, dass er Kai nun auf diese Weise attraktiv fand, was dazu geführt hatte, dass er mit dieser Tatsache besser umgehen konnte. Offenbar war es damit aber noch nicht getan. Je länger sie in der Küche saßen und redeten, lachten, zusammen Plätzchen aßen, desto mehr wurde Rei bewusst, dass er den anderen vielleicht nicht nur auf rein körperlicher Basis anziehend fand. Bester Hinweis darauf war, dass ihm die regelmäßigen Unterhaltungen mit Kai, ob tiefgründig oder nur der Austausch von Trivialem, so gefehlt hatten. Ihm waren Kais Meinungen wichtig, sein Rat; er diskutierte gerne mit Kai (jedenfalls, so weit dies denn vom Thema abhängig möglich war - empfand Kai ein Thema als einer Diskussion nicht würdig, weigerte er sich, sich darüber überhaupt auszulassen), und redete genauso gern über Sinnfreies und Albernes. Es war ihm einfach wichtig, den anderen um sich zu haben, und zwar, so stellte er fest, so oft wie dies nur ging. Dass es sich bei Kai um den ersten Vertreter des männlichen Geschlechts handelte, den er auf diese beiden Arten anziehend fand, war nicht die Tatsache, die ihm daran nicht so ganz behagte. Wieder war es, dass Kai und er beste Freunde waren. An einem weiteren Plätzchen nagend fragte Rei sich, wie viele Freunde einander wohl anziehend fanden, ohne dies dem jeweils anderen mitzuteilen. Sicherlich war es so, dass es eine gewisse Anziehung gab, sonst hätte man wohl nicht begonnen, sich anzufreunden, aber diese war wohl anderer Natur als die Anziehung, die Rei Kai gegenüber empfand - sei es die körperlicher oder geistiger Art. Nachdem der Schwarzhaarige gerade das Gefühl gehabt hatte, dass er langsam damit klar kam, dass Kais Körper Begierde in ihm auslöste, und sich schon darüber gefreut hatte, sich mit Kai wieder fast so wie vorher unterhalten und normal mit ihm umgehen zu können, war es ihm äußerst unangenehm, jetzt schon wieder mit einer neuen Erkenntnis konfrontiert zu werden. Da er Kai über so etwas aber auf gar keinen Fall als besten Freund verlieren wollte, mangelte es ihm an Alternativen, wie er sich verhalten sollte. So entschied er, die Anziehung, die er fühlte, zu ignorieren. Menschen lebten schließlich alltäglich mit Widersprüchen in ihrem Leben, so würde er es wohl auch hinbekommen, sein Verhalten nicht seinen Empfindungen entsprechen zu lassen. Während er Kai beim Reden beobachtete und seine Reaktionen auf den anderen genauer zu untersuchen versuchte, konnte er keine Anzeichen bei sich sehen, die darauf deuteten, dass er verliebt war. Er hatte nur die Erfahrung seiner Beziehung mit Mao, in der er anfangs vielleicht einmal verliebt gewesen war, hatte deshalb immer Zweifel, wie sich Verliebtheit eigentlich anfühlte und wann man wusste, dass man wirklich verliebt war. Was man so hörte und las, nämlich, dass es einem einfach klar war, wenn man sich verliebt hatte, bestärkte ihn darin, dass er nicht verliebt war. Und dabei sollte es - Anziehung und Begierde hin oder her - auch bleiben. Kapitel 9: Blut --------------- Kapitel 9: Blut Für schon diese Woche. „Au, verdammt!“, hörte Rei aus der Küche, gefolgt von einem klappernden Geräusch. Er warf daraufhin das T-Shirt, das er gerade zu falten begonnen hatte, neben den Stapel der bereits gefalteten Anziehsachen auf seinem Bett und verließ sein Zimmer, um dem schmerzerfüllten Ausruf auf den Grund zu gehen. Als er die Küche betrat, fiel ihm zuerst das blutige Messer auf, das auf der Anrichte lag, dann sah er Kai, der sich, noch immer leise fluchend, die linke Hand hielt und offenbar suchend im Raum umherlief. „Was hast du gemacht?“, fragte Rei, starrte auf das Blut, das zwischen den Fingern Kais hervorquoll, bevor er sich dem anderen näherte. „Wonach sieht's denn aus?“, erwiderte Kai bissig, fügte er gleich darauf hinzu: „Haben wir hier nirgendwo Taschentücher oder was?“ „Warte.“ Der Schwarzhaarige eilte zu einem der Hängeschränke in der Küchenzeile und beförderte eine Rolle Küchenpapier zu Tage. Schon auf dem Weg zurück zu Kai, der sich mittlerweile mit seinem Bein einen Stuhl unter dem Tisch hervorgezogen und sich darauf niedergelassen hatte, riss er mehrere Stücke ab und reichte sie weiter. Wieder etwas freundlicher murmelte Kai ein „Danke“, bevor er damit begann, sich das Blut von den Händen zu tupfen, das Küchenpapier anschließend so auf die Wunde presste, wie er zuvor seine rechte Hand dagegen gedrückt hatte. „So, wie das blutet, war das aber ein ganz schön tiefer Schnitt“, merkte Rei an, sah kurz zur Anrichte hinüber. Jetzt sah er auch, dass Kai dabei gewesen war, Gemüse zu schneiden. „Hmm“, bestätigte Angesprochener. „Ich habe einen Moment nicht aufgepasst und zack! Drin.“ Kai blickte auf das Tuch hinunter, das mittlerweile von Blut getränkt und daher kaum noch etwas vom ursprünglichen Weiß zu sehen war. „Mist, es hört gar nicht auf zu bluten.“ Er drückte fester auf die Wunde. Rei erbot sich, etwas Verbandszeug aus dem Badezimmer zu holen. Kai protestierte, aber Rei ließ sich nicht beirren und war wenige Minuten später mit den gewünschten Dingen wieder zurück in der Küche. Er nahm schräg gegenüber von Kai Platz, sagte dabei: „Gib mir deine Hand.“ Etwas widerwillig entfernte Angesprochener das blutige Küchenpapier von dem Schnitt in seiner Handinnenfläche und streckte seine Hand aus, noch immer nicht ganz davon überzeugt, dass all diese Umstände wirklich nötig waren. Vorsichtig ergriff Rei diese, tupfte ein wenig Blut ab. „Es hört doch langsam auf zu bluten.“ „Und wieder einmal hatte ich Recht - du hättest dir sparen können, all den Krempel aus dem Badezimmer zu holen.“ Kai grinste. „Ich werde die Wunde trotzdem desinfizieren, das kann sicher nicht schaden. Und ein Pflaster kommt auch drauf.“ Rei bedachte den anderen mit einem Blick, der jede Widerrede unterbinden sollte. Kai verdrehte die Augen, sagte aber nichts. „Wie praktisch, dass wir noch all diese Sachen aus unserem alten Verbandskasten haben, den wir beim Bladen immer dabei hatten“, kommentierte der Schwarzhaarige, nachdem er ein wenig Desinfizierungsspray auf ein Taschentuch gesprüht hatte, mit welchem er jetzt über die Wunde tupfte. Kai sagte auch daraufhin nichts, starrte stattdessen mit zurückgelehntem Kopf abwesend an die Decke. Innerlich die Schultern zuckend, konzentrierte Rei sich voll und ganz auf seine Aufgabe. Kais Finger waren eher kühl, aber die Haut fühlte sich trotzdem sehr weich unter seinen Fingerspitzen an; weich und glatter, als er jemals vermutet hätte, wenn man ihm vorher die Frage gestellt hätte, wie sich die Hände des anderen anfühlten. Am liebsten, so stellte Rei fest, hätte er mit seiner Arbeit immer weitergemacht, um seine Hände nicht von der linken Hand Kais zu entfernen, die in der seinen lag. Ob dieses Gedankens seufzte er innerlich. Nachdem er mit dem Spray fertig war, schnitt er ein Stück Pflaster zurecht und klebte dieses über den Schnitt. „Fertig“, verkündete Rei schließlich, ohne die Hand in seiner loszulassen. Kai wandte seinen Blick von der Decke zu seiner Hand weiter zu Rei. Nach einer Pause, in der sie einander wortlos ansahen, sagte er leise: „Danke, Rei.“ Erst dann nahm er seine Hand aus der Reis und legte sie vorsichtig wieder in seine rechte, um die Hand so wenig wie möglich bewegen, solange sich noch keine feste Kruste gebildet hatte. Rei nickte. „Kein Problem.“ Erst nachdem Kai die Küche nach einiger Zeit verlassen hatte und er selbst für diesen noch das Messer und die restlichen Utensilien gesäubert und wegräumt hatte, gestand er sich ein, was ihm fast schmerzhaft bewusst geworden war, als er Kais Hand nicht hatte loslassen wollen, als sie sich schweigend angeblickt hatten, als Kai seinen Dank ausgesprochen hatte. Es ließ sich nicht länger leugnen. Es gab all diese kleinen Momente in ihrem Alltag, von denen er sich nicht mehr einreden konnte, dass sie zwischen besten Freunden völlig normal waren. Auch diesmal hatte alles in ihm inne gehalten, als Kai und er diesen schweigsamen Blickkontakt gehabt hatten - er war sich seines Atems und seines Herzschlages übermäßig bewusst gewesen und hatte seinen Blick von Kai kaum lösen wollen. Nein, es ließ sich nicht länger leugnen. Er hatte sich verliebt. In seinen besten Freund. In Kai. Kapitel 10: Morgen ------------------ Kapitel 10: Morgen Rei wachte mit einem brummenden Kopf auf. Er fühlte sich zerschlagen, hätte sich am liebsten noch einmal umgedreht und weitergeschlafen, aber er wusste, dass die Kopfschmerzen ihn daran hindern würden, noch einmal ins Land der Träume hinabzugleiten. Stöhnend versuchte er, sich aufzurichten. Diesen Versuch machten ihm nicht nur die plötzlich hämmernden Schmerzen in seinem Kopf zunichte, sondern auch die Tatsache, dass jemand Rei mit einem Arm umschlungen hielt. Auch seine Beine genossen keine Bewegungsfreiheit, wie er schnell feststellte, da sie mit einem weiteren Paar hoffnungslos verhakt waren. Da der Besitzer dieser sich in seinem Rücken befand, wusste er noch immer nicht, um wen es sich eigentlich handelte. Eine böse Ahnung kroch jedoch in Rei hoch, als er mit klopfendem Herzen regungslos verharrte, um den anderen nicht aufzuwecken. Vorsichtig neigte er seinen Kopf schließlich leicht nach unten, warf einen Blick auf die Hand, die auf seinem Bauch lag und zwischen weißen Bettlaken hervorlugte. Rei erkannte sie zu seinem Entsetzen sofort. Fetzen von Erinnerungen an die gestrige Nacht kamen hoch, aber es war viel zu wenig, um den Abend und die folgende, lange Nacht zu füllen. Innerlich verfluchte Rei sich dafür, so viel Alkohol getrunken zu haben, denn in einer dieser Erinnerungslücken war auch die Erklärung dafür verschwunden, was er hier mit Kai, ausgerechnet mit Kai, in einem Bett tat. Der Schmerz, der noch immer in seinem Schädel dumpf pochte, half nicht gerade dabei, aus einer dieser Lücken noch etwas Brauchbares zu Tage zu fördern. So lag Rei starr in dem Bett, das, wie er feststellte, weder seins noch Kais war, und fragte sich leicht panisch, was er jetzt tun sollte, wenn Kai aufwachte. Ob Kai ebenso wenig wusste, was geschehen war, wie er selbst? Glücklicherweise fiel ihm zwischen einer Reihe von panischen Gedanken auf, dass er zumindest bekleidet war. Er trug noch immer seine Kleidung vom gestrigen Abend, die zerknittert war und nicht gerade angenehm roch. Rei atmete erleichtert aus. Nach den Kopfschmerzen und seinem Filmriss zu urteilen hatten sie gestern so viel getrunken, dass sie ganz sicher nicht in der Lage gewesen wären, sich nach eventuellen...Vorkommnissen wieder anzuziehen. Ihm war, als fiele ihm ein Stein vom Herzen. Schon diese Situation war ihm unangenehm genug, nicht auszudenken, wie er sich gefühlt hätte, wenn er hätte feststellen müssen, dass Kai und er in völlig betrunkenem Zustand miteinander geschlafen hatten und er sich an nichts erinnern konnte. Seine müden, brennenden Augen ignorierend, überlegte Rei gerade, wie er es wohl anstellen sollte, aus diesem Bett zu verschwinden, ohne den anderen dabei aufzuwecken, als ein leises Stöhnen rechts von ihm dem Schwarzhaarigen klar machte, dass jede weitere Überlegung in diese Richtung sinnlos war. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass Kai ebenfalls bemerkte, in welcher Position sie sich befanden. Es folgte das Rascheln von Bettwäsche, ein unterdrücktes Murren (es schien, dass Rei nicht der Einzige mit einem Kater an diesem Morgen war) und schließlich Stille. Rei hielt diese nicht lange aus, bevor er seine Augen wieder öffnete und seinen Kopf zu Kai herumwandte. Ihm graute davor, Kais Reaktion auf dessen Gesicht lesen zu können. Einen Moment starrten sich die beiden an, Gesichter so nah auf den Kissen, dass Rei Kais Atem in seinem Gesicht spürte. Die Sekunden verstrichen, in denen sie beide nichts zu sagen wussten, waren sie unsicher, wie sie nun miteinander umgehen sollten. „Kannst du dich an irgendwas erinnern?“, fragte Kai, während er langsam seinen Arm zu sich zog und seine Beine zwischen denen Reis hervorzuziehen begann. Rei schüttelte den Kopf. „Zumindest nicht mehr ab dem Zeitpunkt, an dem wir angefangen haben, Tequila zu trinken.“ „Ich auch nicht.“ Nach einem weiteren Blickwechsel brach Rei in leises Lachen aus, weil es besser war als jede andere Reaktion, zu der er sich gerade überhaupt in der Lage fühlte. Auch Kai grinste einen Augenblick später. „Einigen wir uns darauf, dass das Ganze hier nie passiert ist?“, fragte er dann, ernst. Zunächst zögernd, nickte Rei schließlich. Kein Wort würden sie also darüber tauschen, was das Geschehene bedeutete, was es hätte verändern können. Rei ließ sich wieder stöhnend zurück ins Kissen fallen. Es schien, dass jegliche Bewegung seines Kopfes an diesem Morgen seine Kopfschmerzen nur vervielfachte. Er benötigte dringend eine Tasse Tee, um seinen Magen, der sich flau anfühlte, wieder zu beruhigen, konnte sich aber noch nicht dazu überreden, aufzustehen. „Ich würde ja gern sagen, dass ich nie wieder so viel Alkohol trinke, aber ich fürchte, ich halte mich sowieso nicht dran“, meinte Rei blinzelnd. Kai machte ein Geräusch, das wohl seine Belustigung andeutete, während er begann, sich aus seiner Bettdecke zu schälen. „Wessen Bett ist das eigentlich, in dem wir geschlafen haben?“, erkundigte sich Rei. Er vermutete, dass sie beide im Haus der ehemaligen Demolition Boys gestrandet waren, die die Gastgeber der gestrigen rauschenden Party gewesen waren. Im Gegensatz zu Kai hatte er bislang nie die Schlafzimmer der Bewohner gesehen. Die Neugier auf die Antwort auf diese Frage motivierte den Fragenden immerhin so weit, dass er sich im Bett aufsetzte. „Wir sind in Yuriys Zimmer“, erwiderte Kai. Seine Schuhe aus einer Ecke klaubend fügte er hinzu: „Das war sicherlich kein Problem für ihn. Er wird bei Boris geschlafen haben.“ „Immerhin sind wir nicht in Boris' Bett gelandet“, sagte Rei mit sichtbarer Erleichterung. Obwohl der Kampf zwischen ihm und Boris mittlerweile ziemlich weit in der Vergangenheit lag, bestand noch immer ein gewisses Spannungsfeld zwischen ihnen beiden. Kai grinste nur. Er kam noch kurz zum Bett, lehnte sich darüber und wuschelte Rei einmal durch die Haare, bevor er Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen. „Ich gehe mich eben waschen und besorge mir unten eine Aspirin“, sagte er noch. „Tee gibt es sicherlich auch für dich, wenn du dich dazu bequemen kannst, das Bett zu verlassen.“ Bei diesen Worten zog Kai eine Augenbraue hoch, blickte Rei an. Dieser nickte nur und schon war der andere aus dem Zimmer verschwunden. Ein Tee war verheißungsvoll, das stimmte. Das Getränk war für ihn das Mittel der Wahl gegen einen Kater und war zudem das Einzige, was er an einem Morgen nach zu viel Alkohol überhaupt herunterbekam. Allein der Gedanke an Frühstück rief meist eine leichte Übelkeit hervor - so auch diesmal. Einen kleinen Moment im Bett wollte er sich aber noch gönnen. Seine Kopfschmerzen, wusste er aus Erfahrung, würden nur noch wieder zunehmen, wenn er sich nicht mehr in der Horizontalen befand und zudem auch noch herumlaufen musste. Rei dachte daran, wie Kai und er gerade miteinander umgegangen waren. Nachdem sie diesen ersten Moment der Verlegenheit überwunden hatten, hatten sie sich eigentlich so wie immer verhalten. In Kais Fall war das wahrscheinlich kein Wunder – er war schließlich nur mit seinem besten Freund in einem Bett aufgewacht. Das war sicherlich auch etwas unangenehm für ihn, vor allem, weil Kai schwul war, aber lange nicht so kompliziert wie bei ihm selbst. Der Gedanke, dass diese Nacht, von der sie nicht wussten, was tatsächlich alles zwischen ihnen passiert war, nicht so einfach unter den Teppich gekehrt werden konnte, wie sie das kurzerhand vereinbart hatten, ließ sich nicht abschütteln. Rei befürchtete, dass es gerade die Tatsache war, dass sie nicht wussten, wie sie schließlich in einem Bett gelandet waren, ob sie geknutscht hatten, die das Problem darstellte. Hätte er gewusst, was er mit ihrer Entscheidung, die Vorkommnisse zu vergessen, überhaupt verdrängte, wäre er vermutlich auch in der Lage gewesen, diese erfolgreich in den Tiefen seines Gedächtnisses zu vergraben. So aber fragte er sich, was eigentlich genau geschehen war und was dies für sie beide und ihre Beziehung bedeutete. Das Ganze wurde erst recht dadurch verkompliziert, dass sie - womöglich unabhängig voneinander - von ihren Freunden eventuell das ein oder andere Detail in Erfahrung bringen konnten. Je länger sich Rei darüber Gedanken machte, desto verstrickter schien ihm die Lage. Wo er eben noch gedacht hatte, dass sich die Situation fast lächerlich einfach geklärt hatte, war er sich da nun nicht mehr so sicher. Er spielte ihr Gespräch noch einmal gedanklich durch, doch seine Gedanken begannen nur, sich im Kreis zu drehen. So schwang Rei seine Beine aus dem Bett und stand auf. Als er merkte, wie das Pochen des Schmerzes in seinem Schädel begann, befand er, dass dies definitiv nicht sein Morgen war. Kapitel 11: Musik ----------------- Kapitel 11: Musik Einer kleinen Anzeige im örtlichen Veranstaltungsmagazin hatten sie es zu verdanken, dass sie sich nun auf diesem Konzert befanden. Noch spielte die Vorband, die, wie Takao fand, gar nicht mal so schlecht war. Dieser Meinung schien auch ein Großteil der restlichen Besucher zu sein, die tanzten, wippten, hüpften und ganz offensichtlich die Musik genossen. Sie hatten einen recht guten Platz in der Menge ergattert - nicht ganz weit vorn, wo man letztendlich fast platt gedrückt wurde, wenn die Hauptband auftrat, aber im vorderen Teil der großen Halle. Dies war der Grund, aus dem Takao hier stehen geblieben war und die Stellung hielt, während Kai und Rei Bier holen gegangen waren. Max, der die auftretende Band im Gegensatz zu ihnen dreien nicht mochte, war zu Hause geblieben. Die Band vorne spielte ein neues Lied an, das im Vergleich zu den vorherigen rockiger war, und Takao dazu veranlasste, im Rhythmus seinen Kopf auf und ab zu bewegen. Dabei sah er der Sängerin zu, die dynamisch auf der Bühne hin- und herlief und ihn auf merkwürdige Weise an Hiromi erinnerte. Bevor er jedoch dazu kam, seinen Gedanken in Richtung Hiromi freien Lauf zu lassen, wurde er von einer Hand, die sich von hinten auf seine Schulter legte, daran gehindert. Einen Augenblick später stand ein grinsender Rei neben ihm und drückte im einen Plastikbecher mit kühlem Bier in die Hand. Kai tauchte fast gleichzeitig auf seiner anderen Seite auf, er ebenso wie Rei mit einem eigenen Gefäß voll Bier. Normalerweise stand Takao gar nicht so auf dieses Getränk, aber bei einem Konzert war das etwas anderes. Wenn es so heiß war, weil all die Menschen sich in der Konzerthalle drängten und sich bewegten, wenn man die stickige Luft um sich herum hatte und fast unausweichlich schwitzte, war ein frisches Bier kaum zu übertreffen. Er nahm also erst rasch einen Schluck, bevor er ein „Danke!“ brüllte, damit seine Worte überhaupt bei Kai und Rei ankamen. Als die Vorband schließlich abgelöst wurde, hatten sie alle ihre Becher bereits geleert und waren froh, dass es endlich mit der Band weiterging, für die sie ursprünglich gekommen waren. So gut die vorherige Band auch gewesen sein mochte und sie für das nun folgende eingestimmt hatte, waren sie doch etwas ungeduldig geworden, weil die Vorband auch noch mehrere Zugaben gespielt hatte. Noch während des Soundchecks, bei dem die auf der Bühne herumlaufenden Bandmitglieder schon Kreischen und Klatschen auslösten, wurde es langsam enger für die drei. Alle, die bislang noch weniger interessiert im hinteren Teil der Halle herumgestanden hatten, drängten nun nach vorn, um besser sehen zu können, so dass sich Takao sich schließlich nicht nur zwischen Kai und Rei gezwängt, sondern auch recht nah an die vor ihm stehende Frau gepresst wiederfand. Er war froh, dass Hiromi nicht da war, die ihm, obwohl er diesmal doch wirklich nichts daran ändern konnte, sicherlich einen bösen Blick dafür zugeworfen hätte. Für langes Nachdenken über Hiromi (nein, sie waren noch immer nicht zusammen) schien heute nicht der Tag zu sein, denn die ersten Akkorde einen harten Gitarre zogen seine Aufmerksamkeit vollends auf die Band und deren Musik. Zwei Stunden später standen sie nassgeschwitzt in dem Vorraum der Halle, standen an der Garderobe in der Schlange, um ihre Jacken wieder zu bekommen. Das Konzert war seit wenigen Minuten zu Ende, neben ihnen strömten die meisten Menschen dem Ausgang zu. „Oh Mann, es war total klasse“, bekundete Takao strahlend. Kai nickte. „Ich fand es auch gut.“ Wie üblich ließ er sich nicht dazu hinreißen, sich besonders begeistert zu zeigen, auch wenn es ihm gefallen hatte. „Da haben sich auch die Karten gelohnt, obwohl die so teuer waren.“ „Auf jeden Fall“, steuerte Rei bei, zupfte dabei an seinem feuchten Shirt. „Es war allerdings ganz schön heiß da drin, puh. Ich hoffe, wir holen uns draußen in der Kälte gleich nicht den Tod.“ „Ach, so schnell geht das nicht“, sagte Takao. Bevor er weiteres hinzufügen konnte, warf Kai ein: „Warum geht es hier eigentlich überhaupt nicht voran?“, deutete dabei auf die Menschen, die vor ihnen anstanden. Seit Minuten hatten sie sich alle nicht mehr vom Fleck bewegt. Schulterzuckend versuchte Takao einen Blick über die Menge zur Garderobentheke zu erhaschen, war jedoch nicht erfolgreich. „Ich gehe dann noch mal eben auf zur Toilette“, entschloss er stattdessen. Seine beiden Freunde nickten nur. Auch auf der Toilette wartete eine Reihe von Menschen, die vor der Nachhausefahrt noch die Gelegenheit nutzen wollten, aber es ging zügig voran und Takao konnte bald wieder zur Garderobe zurückkommen. Kai und Rei waren einiges vorgerückt, sah er schon von weitem. Als er bei ihnen ankam, fiel ihm jedoch sofort die merkwürdig gedrückte Stimmung auf, die ganz sicher noch nicht in diesem Maße zwischen den beiden geherrscht hatte, bevor er gegangen war. Er hatte die letzten Tage schon bemerkt, dass sie sich nicht ganz normal verhielten und ein wenig komisch miteinander umzugehen schienen, hatte dabei aber nichts weiter gedacht. Nun wurde ihm klar, dass es offenbar doch etwas Ernsteres war, was zwischen ihnen hing. „Hey, da bin ich wieder. Alles klar bei euch?“, fragte er, versuchte, lässig zu klingen und dabei trotzdem etwas mehr darüber zu erfahren, wie die beiden nun drauf waren. Kai schwieg einfach und drehte demonstrativ den Kopf weg. Nach einer Pause sagte Rei: „Alles okay, Takao. Es ist nichts weiter.“ Takao hatte nicht den Eindruck, dass es nichts weiter war, wollte sich aber nicht weiter einmischen, auch wenn er gerne gewusst hätte, was mit den beiden los war. Während sie schweigend in der Schlange standen, fühlte Takao sich ziemlich zwischen den Stühlen und bedauerte, dass das Konzert, was ihnen allen so gefallen hatte, so endete. Er erinnerte sich, was die anderen ihm von der Party bei Yuriy und den anderen Russen erzählt hatten - er selbst war bei dieser sehr betrunken und zudem zu sehr mit Hiromi beschäftigt gewesen, als dass er viel von dem Abend hatte mitbekommen können - und fragte sich, ob die Auseinandersetzung jetzt etwas damit zu tun hatte, wie die beiden am nächsten Morgen aufgewacht waren. Sie erreichten schließlich die Theke der Garderobe, bekamen alle ihre Jacken ausgehändigt und verließen das Gebäude, nachdem sie diese übergestreift hatten. Draußen war es wie von Rei vorhergesehen kalt, was sie nach der Hitze in der Halle besonders deutlich spürten. Takao zog seine Jacke fester zusammen und machte einen letzten Versuch der Konversation, um die Stimmung aufzulockern. „Welche Stücke gefielen euch eigentlich am besten?“ In dem Moment, in dem er es aussprach, merkte Takao schon, wie zusammenhangslos diese Frage war, weil das Thema Konzert durch diese merkwürdige Angespanntheit zwischen Kai und Rei schon längst fern und vergessen schien. Vielleicht hatte Rei bemerkt, was Takaos Absicht gewesen war, vielleicht auch nicht - Tatsache war, dass er sich einer Antwort erbarmte und mit dem Japaner kurz darauf in ein recht belangloses Gespräch verwickelt war. So schwiegen sie sich wenigstens nicht an und Takao hoffte, dass der Konzertabend deswegen zumindest in seiner Erinnerung positiver verbleiben würde, nachdem er sich so darauf gefreut hatte. Er fand es schade, dass die Stimmung so nachgelassen hatte, aber er ärgerte sich deswegen nicht über seine Mitbewohner. Vor allem hoffte er, dass Kai und Rei ihre Differenzen oder was auch immer sie eigentlich hatten, bald würden klären können. Nach einer Bahnfahrt und einem langen Fußmarsch, weil die Busse um die späte Uhrzeit nicht mehr fuhren, kamen sie wieder zu Hause an. Kai verschwand rasch im Bad; Rei hingegen wandte sich noch einmal an Takao, bevor er in sein Zimmer ging. „Es tut mir Leid, dass wir dir den Abend so versaut haben“, sagte er. „Es war ein bisschen schlechtes Timing, aber Kai und ich kriegen das auch wieder hin.“ Angesprochener nickte, dankbar für diese Worte. „Ist okay. Hauptsache, ihr vertragt euch wieder.“ Da lächelte auch Rei. „Werden wir, Takao. Schlaf gut.“ Kapitel 12: Eifersucht ---------------------- Kapitel 12: Eifersucht Obwohl Rei überzeugt zu Takao gesagt hatte, dass er und Kai ihre kleine Auseinandersetzung klären und beilegen würden, taten sie nichts dergleichen. Im Grunde wurmte es Rei noch immer, wie der Russe reagiert hatte, als er diesem an der Garderobe nach dem Konzert mitzuteilen versucht hatte, dass er nicht so mir nichts dir nichts ignorieren konnte, was es zu bedeuten hatte, dass sie an jenem Morgen zusammen in einem Bett aufgewacht waren - wenn auch bekleidet. Noch bevor er nämlich zum Punkt hatte kommen und erklären können, warum er dies nicht konnte und wollte, hatte Kai abgeblockt und verkündet, er werde nicht zulassen, dass dieser „äußerst dumme Zwischenfall“ wichtiger genommen würde als er gewesen war. Rei hatte eigentlich die Absicht gehabt, den anderen aufzusuchen, nachdem ein bisschen Zeit verstrichen war, in der Kai, wie er hoffte, zu Einsicht gelangen würde. Erst hatte sich jedoch nicht der Moment dazu gefunden, das Ganze noch einmal anzusprechen, und als Rei dann irgendwann endlich einen Versuch gemacht hatte, dies zu tun, hatte Kai sich wieder stur gestellt. Daraus hatte Rei entnommen, dass dieser nicht bereit war, sein Verhalten noch einmal zu überdenken, und hatte nicht weiter nachgefragt. Mittlerweile waren sie es beide Leid geworden, so wenig miteinander zu sprechen und so zu schmollen und waren einfach dazu übergegangen, sich nach außen hin so zu verhalten, wie sie es in dem Zeitraum zwischen Party und Konzert getan hatten. Rei fühlte sich gleichwohl noch immer davon verletzt, dass Kai so herunter gespielt hatte, was in ihm trotz allem die Hoffnung entfacht hatte, Kai könnte seine Gefühle erwidern. Die Enttäuschung und der Schmerz darüber, dass Kai seine Empfindungen wohl kaum erwidern konnte, wenn er sich so verhielt, bewogen ihn jedoch letztendlich dazu, sich lieber wieder härter anzustrengen, diesen fatalen Morgen einfach zu vergessen. Erst einige Wochen später, es war längst März, sollte sich etwas ereignen, was dazu führte, dass Rei seine Meinung in dieser Hinsicht noch einmal änderte. Zunehmend hatte er sich während dieser Wochen mit anderen Freunden als seinen Mitbewohnern getroffen. Da Rei das Gefühl hatte, es fiele ihm leichter zu vergessen, wenn er viel unternahm und sich ablenkte, hatte er beschlossen, dies so viel wie möglich zu tun und sich dabei mit Freunden zu treffen, mit denen Kai nichts zu tun hatte - Brooklyn, Rai, Salima. Es tat gut, nicht ständig erinnert zu werden und mit Leuten zu sprechen, die unvoreingenommener ihre Meinung zum Thema sagen konnten, weil sie nicht mit Kai befreundet waren. An einem verregneten Samstag kam er mit Brooklyn zusammen nach Hause, nachdem sie den Tag in der Stadt verbracht hatten und noch gemütlich einen Kaffee trinken wollten. Im Flur beim Hereinkommen trafen sie das erste Mal auf Kai, anhand dessen finsterer Miene Rei gleich erkannte, dass dieser wieder schlecht gelaunt war. Sein Gesichtsausdruck wurde noch verschlossener, als er Brooklyn sah. Rei konnte sich nicht so ganz einen Reim darauf machen. Er wusste, dass Kai den anderen nicht sonderlich mochte, aber eine solche Reaktion auf den jungen Mann erklärte das nicht. Sich zunächst nicht weiter an dieser störend, schließlich hatte er Besuch, um den er sich kümmern wollte, ignorierte er die miese Laune Kais und zog Brooklyn mit in die Küche. Immer wieder lachend und gestikulierend setzten sie ihre Unterhaltung fort, tranken dabei den gewünschten Kaffee. Bis Kai die Küche betrat. „Geht's vielleicht auch leiser?“, fragte er. „Man hört euch durch die ganze Wohnung und es gibt hier auch noch Leute, die lernen müssen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Kai wieder, zog die Tür hinter sich unnötig laut zu. „Huh, was ist denn mit ihm los?“, wollte Brooklyn wissen. „Ich weiß es auch nicht.“ Stirnrunzelnd blickte Rei zur Tür. „Wir waren doch gar nicht so laut.“ Er seufzte. „Seine Laune ist schon seit ein paar Tagen nicht die beste, aber...“ Brooklyn zuckte mit den Schultern. „Es wird wohl nichts Schlimmes sein, man hat doch immer mal so Phasen, in denen man einfach von allem genervt ist.“ „Jaah, stimmt“, machte Rei, innerlich wenig überzeugt davon. Bald waren sie wieder zu ihrem ursprünglichen Gesprächsthema zurückgekehrt, aber Rei ließ das Verhalten Kais nicht in Ruhe. Er merkte, dass er nicht mehr richtig bei der Sache war, dass er teils nur die Hälfte von dem mitbekam, was Brooklyn sagte, weil er in Gedanken woanders war. Obwohl er meinte, sich nicht sofort darum kümmern zu müssen, wenn Kai irgendeine Laus über die Leber gelaufen war, musste er wieder einmal feststellen, dass er es nicht einfach abstellen konnte, an Kai zu denken und sich Sorgen zu machen. Als er sah, dass Brooklyn seinen Kaffee leer getrunken hatte, wandte er sich an diesen: „Entschuldige, Brooklyn - ich will nicht unhöflich sein, aber wäre es okay, wenn wir es jetzt mit unserer Verabredung zum Ende kommen lassen? Ich...ich würde doch gerne mit Kai reden.“ „Kein Problem. Ich kann zwar nicht wirklich verstehen, was du an ihm findest, aber wenn es dir dann besser geht, dann solltest du mit ihm reden.“ Brooklyn stand auf, nahm seine Tasse noch zur Spüle mit, bevor sie beide in den Flur gingen und sich mit der Absprache zu telefonieren verabschiedeten. Vor Kais Zimmertür zögerte Rei noch einmal, klopfte dann aber. Es folgte ein missgelauntes „Ja?“ von der anderen Seite, woraufhin der Schwarzhaarige eintrat. Kai saß an seinem Schreibtisch, hatte mehrere Bücher und Ordner aufgeschlagen vor sich liegen und war offenbar in der Tat dabei zu lernen. „Hey“, sagte Rei zögerlich. Erst jetzt sah Kai auf und in seine Richtung. „Selber hey. Was willst du?“, fragte Kai nicht eben freundlich. „Ich wollte mit dir reden-“ „Ach, ist Brooklyn schon gegangen?“ Seine Stimme klang jetzt geradezu hämisch. Rei wusste, dass Kai dazu neigte, verletzende Kommentare von sich zu geben, wenn er miese Laune hatte, aber das verringerte ihre Kraft nicht unbedingt. Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Was ist eigentlich los mit dir, Kai?“ Angesprochener reagierte nicht direkt, starrte für lange Augenblicke auf die vor ihm aufgeschlagenen Unterlagen. Rei noch immer nicht ansehend, antwortete er schließlich: „Ich hab einfach keinen Bock mehr auf Brooklyn! Ständig hängst du mit ihm rum und verstehst dich offenbar blendend mit ihm. Ist es vielleicht verständlich, wenn ich eure tolle Beziehung nicht noch auf die Nase gebunden haben will?!“ Gegen Ende war Kai immer lauter geworden, was die aufkommende Stille nach dem Ende seines Satzes nur noch schwerer zwischen ihnen hängen ließ. Rei blinzelte. „Du... Du hast so eine Laune, weil du eifersüchtig bist?“ Rei blickte den anderen ungläubig an. Kai brummte etwas Unverständliches, entzog sich so einer direkten Antwort. Selbst diese Reaktion sagte ihm jedoch alles, was er hatte wissen wollen. „Ich fass' es nicht.“ Kopfschüttelnd widerstand Rei dem Impuls, die Hände in die Luft zu werfen. „Nach der Party damals hast du alles getan, um diesen...diesen Vorfall runterzuspielen und ich dachte, dir wäre egal, was das für uns vielleicht hätte heißen können, so wie du reagiert hast, und jetzt bist du eifersüchtig auf Brooklyn? Ich verstehe das nicht, Kai, echt nicht.“ Frustriert begann er, im Zimmer auf und ab zu gehen. Nach einer Pause fragte Kai: „Was das für uns hätte heißen können? Was meinst du damit?“ Rei blieb stehen, blickte zu dem anderen. „Kannst du dir das nicht denken? ... Okay, du willst es hören. Also gut. Dann klären wir das wenigstens endlich richtig.“ Er atmete einmal ein und aus, während in seinem Bauch die Nervosität brannte. „Du hast mal zu mir gesagt, ich soll mir eine Freundin suchen - oder auch nicht. Oder auch nicht trifft es besser.“ Kai blickte auf. „Ich will keine Freundin, sondern einen Freund. Dich, Kai.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach er schnell weiter. „Und nachdem wir an diesem Morgen im selben Bett aufgewacht sind...da habe ich mir eben Hoffnungen gemacht und-“ „...die ich gleich zerstört hab, indem ich es erst vergessen und dann nicht drüber reden wollte“, sagte Kai, klang auf eine seltsam bittere Art und Weise amüsiert. Rei verstand nicht, worüber der andere so amüsiert war, und während er Kai anstarrte, der sich die Schläfen rieb, ballte sich die Nervosität in seinem Bauch zu einem schweren Klumpen der dämmernden Enttäuschung. Schon wollte er sich abwenden, das Zimmer verlassen, als Kai aufstand und zu sprechen begann. „Rei, warte! Du hast einen völlig falschen Eindruck bekommen. Du weißt gar nicht, wie lange ich mir schon wünsche, dass-“ Er unterbrach sich. Mit einigen Schritten näherte er sich Rei, strich diesem sanft einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich hab mich geweigert, noch einmal über diesen Morgen mit dir zu reden, weil ich dachte, dass du so ungefähr das Gegenteil von dem zu mir sagen würdest, was du offenbar sagen wolltest. Dich als besten Freund zu verlieren, weil wir an diesem Abend ein bisschen zu viel getrunken haben, wollte ich unter allen Umständen verhindern.“ Kai lächelte. „Denn allein das hätte ich nicht aushalten können, obwohl ich doch eigentlich längst wollte, dass wir mehr als beste Freunde wären... Du...du weißt, was ich meine.“ Rei nickte nur, die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der Klumpen in seinem Bauch begann, sich aufzulösen und plötzlich fühlte es sich an, als tanzten Schmetterlinge einen Reigen an dessen Stelle. Kapitel 13: Frühling -------------------- Kapitel 13: Frühling Etwas zögerlich trat Kai hinter den Schwarzhaarigen, legte seine Hände auf dessen Taille. Als Rei daraufhin seinen Kopf wandte, sah er ein Lächeln auf dessen Gesicht. Er beugte sich ein wenig vor, gab Rei zur Begrüßung einen Kuss auf die Lippen. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, fielen ihm durch das Fenster, vor dem der andere gestanden hatte, die zwei Kirschbäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins Auge. Als er eben nach Hause gekommen war, hatte er einige Meter auf einer Art Teppich aus Kirschblütenblättern zurückgelegt und auch jetzt konnte er erkennen, wie sich einzelne der rosa Blüten von den Zweigen lösten und langsam zu Boden trudelten. Immer schien es ihm, als wäre die Last der Blüten den Kirschbäumen zuviel, denn obwohl die Blüte gerade erst begonnen hatte, warfen sie schon wieder so viele der zarten Blätter ab. „Es sieht schön aus, nicht?“, fragte Rei und Kai hatte das Gefühl, der andere könne seine Gedanken lesen, obgleich er wusste, dass er wohl einfach seinen Blick verfolgt hatte. Er nickte. Es stimmte. Was im Herbst so trostlos und vergänglich wirkte, wenn all die Bäume ihre roten und gelben Blätter verloren, erweckte im Frühjahr einen ganz anderen Eindruck, wenn die Kirschbäume ihre Blüten abwarfen. Ein Gefühl von Vertrautheit befand sich zwischen ihnen, als sie gemeinsam hinaus sahen. Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer, durch die Kai gerade eben erst gekommen war, erneut und Max und Takao traten ein. Sie konnten ein Kichern nicht unterdrücken, als sie ihre beiden Mitbewohner so am Fenster stehen sahen. Dieses Geräusch zog Kai und Rei abrupt aus ihren Gedanken, sie ließen sich intuitiv los und brachten etwas Distanz zwischen sich. Dies rief in Kai wieder das Bewusstsein dafür wach, dass sie sich, obwohl sie nach ihrer Aussprache zusammen gekommen waren, noch immer nicht ganz an ihre Beziehung gewöhnt hatten. Alles war noch neu, manchmal waren sie unsicher, wie sie sich miteinander verhalten sollten. Dies war besonders der Fall, wenn andere Leute zugegen waren, selbst wenn es sich dabei um ihre langjährigen Freunde und Mitbewohner handelte. Nachdem sie so lange nur sehr gute, gar beste Freunde gewesen waren, brauchten sie noch ein wenig Zeit, sich daran zu gewöhnen, wie sie den jeweils anderen nun berühren konnten, und in Erfahrung zu bringen, wann ein Kuss, eine Berührung oder mehr erwünscht war und wann eine solche neue Vertrautheit dem anderen vielleicht noch unpassend schien. Kai hatte nicht den Eindruck, dass das ihre Beziehung beeinträchtigte, ganz und gar nicht. Es ging ihnen beiden sehr gut darin, aber man merkte ihnen einfach an, dass diese für sie noch neu war. Er beurteilte das nicht als negativ; er fand es nur natürlich, dass tiefergehende Vertrautheit zwischen ihnen nicht von jetzt auf gleich da war, nur weil sie sich darauf geeinigt hatten, eine Beziehung zu führen, die über Freundschaft weit hinausging. All diese Überlegungen schob er zur Seite, als Max zu erklären begann, was ihn und Takao eigentlich ins Wohnzimmer geführt hatte. „Wir wollten fragen, ob ihr mit in den Park kommt, um ein paar Runden zu bladen?“, fragte der Blonde. Takao grinste und wippte Dragoon, der auf seiner ausgestreckten Handfläche lag, auffordernd. „Bladen?“, erwiderte Rei verblüfft, während sein Freund nur eine Augenbraue nach oben hob. „Na ja – nichts Ernstes. Mal gucken, was an Moves noch so klappt, ein kleines Wettkämpfchen oder so“, erläuterte Max. Takao fügte hinzu: „Wir dachten, wir haben schon so lange nicht mehr gebladet, obwohl uns das früher immer so viel Spaß gemacht hat, dass es sicher nicht schaden könnte, die alten Beyblades mal wieder auszupacken?“ „Ich wär dabei“, sagte Rei lächelnd. „Allein schon, um ein bisschen rauszukommen und die erste Sonne abzukriegen.“ Schließlich nickte auch Kai. „Im Park ist es zwar sicher voll, weil alle Kirschblütenpicknick machen werden, aber-... Warum eigentlich nicht?“ Er grinste. „Ihr habt sowieso keine Chance gegen mich.“ „Hah“, machte Takao daraufhin, „das werden wir erst mal sehen!“ Kaum eine Dreiviertelstunde später standen sie im Park, in dem tatsächlich ziemlich viele Menschen unterwegs waren, auf einem Ascheplatz, den sie für die ersten Versuche nach langem als geeignet befanden. Ihr Blades und alten Starter waren schnell aus den Schränken hervorgekramt gewesen. Sie befanden sich zwar nicht mehr auf dem neuesten Stand und waren schon gar nicht bestens in Schuss gehalten, aber für ihre Zwecke reichte es durchaus. Nach einigen Testläufen, bei dem sie schon begannen, ihre Blades gegenseitig kreuz und quer umher zu jagen, starteten sie richtige Matches. Kai und Takao traten als Erstes gegeneinander an und lieferten sich ein hartes Duell, dass Takao schließlich für sich entscheiden konnte, doch bald hatten sie so sehr ihren Spaß an der Sache wieder gefunden, dass sie alle möglichen Kombinationen von Gegnern durchgingen, die ihnen nur einfielen. Sie lachten viel, zogen sich gegenseitig auf, wenn ihre Moves nicht so klappten, wie sie sie früher im Traum hatten ausführen können, und gingen für einige Stunden völlig in ihrer alten Lieblingsbeschäftigung auf. Das letzte Match, in dem Kai und Rei zwei gegen zwei gegen Takao und Max antraten, gewannen die ersteren beiden nach einem guten Treffer von Kai, der Takaos Blade ausknockte. So hatten Dranzer und Drigger mit Max verhältnismäßig leichtes Spiel und beendeten das Duell wenige Augenblicke später. Rei hob grinsend die Hand, in die Kai einschlug und Rei dann mit einem Arm um die Hüfte zu sich heranzog. „Gutes Team, hm?“, murmelte Kai leise in Reis Ohr, woraufhin sich dieser vorbeugte, um ihm einen raschen Kuss zu stehlen. Noch erhitzt und voll Energie nutzte Kai seine Chance und gab die Lippen seines Freundes so schnell nicht frei. In diesem Moment war jegliche Unsicherheit verschwunden, war der Kuss viel zu impulsiv gekommen, als dass sie sich noch über so etwas hätten Gedanken machen können. Schließlich sammelten sie alle vier ihre Blades ein und machten sich auf den Weg nach Hause. „Das müssen wir unbedingt irgendwann noch mal machen“, sagte Takao begeistert. Nur Zustimmung ertönte darauf und sie begannen ein angeregtes Gespräch über ihre Blades und die gerade ausgetragenen Matches. Als sie das eiserne Tor ihres Vorgartens passierten, pflückte Kai dem Schwarzhaarigen leicht befangen ein Kirschblütenblatt aus den Haaren, was sich vom Wind getragen darin verfangen hatte, und schnipste es wehmütig lächelnd davon. Kapitel 14: Liebe ----------------- Kapitel 14: Liebe Rei zog zwei Damen aus den Karten auf seiner Hand, warf diese auf den bestehenden Stapel auf den Tisch. Den Kopf schüttelnd gab Takao gleich an Max weiter, der mit zwei Königen übertrumpfte. Erwartungsvoll blickte Max Rei an, hatte die nächsten Karten schon zwischen seinen Fingerspitzen, doch der Schwarzhaarige legte triumphierend zwei Asse und eine Acht im selben Zug, womit er keine Karten mehr auf der Hand und gewonnen hatte. Grinsend lehnte Rei sich in seinem Stuhl zurück. „Schon wieder König geworden, ich glaub's nicht. Und zu dir kann man noch nicht mal ‚Glück im Spiel, Pech in der Liebe’ sagen“, sagte Takao spielerisch schmollend, woraufhin Rei grinste. Nachdem Takao und Max die Runde zu Ende gespielt hatten, mischten sich nicht noch einmal. Stattdessen unterhielten sie sich noch eine Weile. Erst, als sie alle drei zu gähnen begannen, sich dabei wohl auch gegenseitig ansteckten, entschieden sie, ins Bett zu gehen. Es war gar nicht so spät, aber sie hatten alle einen anstrengenden Tag mit Arbeit und Uni hinter sich und waren deswegen müde. Kai hatte sich schon etwas früher ins Bett begeben, da er an diesem Tag endlich die Prüfung geschrieben hatte, für deren Lernen er in der letzten Zeit einiges an Schlaf hatte ausfallen lassen. Max räumte noch ihre Gläser in die Spülmaschine und Rei packte die Spielkarten, die noch auf dem Küchentisch verstreut lagen, in die Box, bevor sie die Küche verließen. Mit einem „Schlaft gut!“ an seine beiden Mitbewohner ging Rei ins Bad, um sich bettfertig zu machen. In einem gemütlichen Shirt und seinen Schlafshorts kam er dann in sein Zimmer, freute sich, als er sah, wer dort in seinem Bett aufzufinden war. Wie er Kai so dort liegen sah, hatte Rei den Eindruck, ihm ginge das Herz auf. Kai sah nicht besser aus als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, hatte nichts besonderes gesagt oder getan, was irgendwie dafür verantwortlich gemacht werden konnte, wie Rei sich in diesem Moment fühlte. Das erste Mal seit langer, langer Zeit war er glücklich. Es war kein übersprudelndes Glücklichsein, das ihn dazu bewegt hätte, ausgelassen zu sein und viel und laut zu lachen. Es war ein eher stilles, tiefes Glücklichsein, das seine Augen strahlen ließ und ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen zauberte. Er wünschte sich, den Moment festhalten zu können, für ein paar Minuten nur die Zeit zu stoppen und einfach zu genießen, was er empfand. Da er wusste, dass dies nicht ging, machte er die letzten Schritte auf das Bett zu, wie es eigentlich seine Absicht gewesen war, als er das Zimmer betreten hatte. Rei schob den Körper des anderen etwas zur Seite, bevor er neben Kai unter die Bettdecke schlüpfte und sich an diesen kuschelte. Etwas Unverständliches murmelnd bewegte Kai sich daraufhin, öffnete seine Augen aber nicht und lag dann schon wieder still. Rei atmete tief ein, um beim Ausatmen alle Muskeln so weit wie möglich zu entspannen, nahm dabei den Geruch von Kai neben ihm wahr - ein wenig Waschmittel aus dem frisch gewaschenen Shirt, das der andere trug, vermischt mit etwas sanft Herbem, was Rei als Kais eigenen Geruch identifizierte. Sich ganz und gar wohlfühlend, aber noch nicht wirklich zum Einschlafen bereit, dachte Rei an die vergangene Zeit zurück. Vor etwa einem Jahr war er selbst noch mit Mao zusammen gewesen und hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er seine nächste Beziehung mit einem anderen Mann eingehen könnte - und an Kai hatte er da erst recht nicht gedacht, diesen nur als Freund betrachtet. Und nun lag er hier und war glücklicher als je zuvor. Er erinnerte sich, was Kai damals an diesem verregneten Tag zu ihm über die große Liebe gesagt hatte. Ob es sie gab, wusste er immer noch nicht. Er hatte jedoch den Eindruck, dass dieses Glücksgefühl, das er nun empfand, dem Ganzen schon ziemlich nah kam. Im Grunde, so stellte Rei fest, war das aber auch gar nicht so wichtig. Er wollte mit Kai zusammen sein, es fühlte sich gut an und er genoss jede Sekunde, die er mit dem anderen verbrachte. Solange dies so blieb, war es ihm völlig egal, wie er selbst oder Kai oder irgendwer anders das benennen mochte, was zwischen ihnen war. Vielleicht war es sogar besser, diesem keinen Namen zu geben. Namen erweckten oft Erwartungen und nahmen den Dingen etwas von ihrer Magie, von ihrem Unbeschreiblichen. Rei, sein Kopf halb auf Kais Schulter ruhend, blickte zu dessen Gesicht hoch. Gleichmäßig konnte er den Atem des anderen hören, war sich sicher, dass dieser längst am Schlafen war. Umso überraschter war er, als sich plötzlich Kais Lider hoben und Rei aus einem dunkelroten Augenpaar angeschaut wurde. Zunächst blinzelte Kai einige Male, während sich seine Augen an das Licht gewöhnten, dann schlich sich ein Lächeln in seine Züge. Noch immer leicht schläfrig hob Kai seinen Kopf vom Kissen, beugte sich zu Rei hinunter und küsste diesen auf den Mund. Es war ein sanfter Kuss, langsam, so dass jede Empfindung ausgekostet werden konnte. Mit einem gewissen Druck, aber ohne Hast und Eile, fuhr Kai mit seiner Zunge über Reis Lippen, saugte einen Moment an der Unterlippe, bevor er mit seiner Zunge weiterwanderte und schließlich die Reis fand. Dieser hatte sich inzwischen in Kais Armen leicht gedreht, sich dem anderen noch mehr zugewandt, und fühlte unter den Fingerspitzen seiner linken Hand dessen warme Haut und die festen Bauchmuskeln. Rei fragte sich flüchtig, wie er sich überhaupt so lange damit zufrieden gegeben hatte, dass Kai sein bester Freund war. Das hier war so viel besser. Und weil er gerade viel zu sehr damit beschäftigt war, geküsst zu werden, als dass er einen Moment hätte lächeln können, gab er sich dem Kuss hin und beließ es dabei, dass sein Herz in ihm lächelte. ___________ Das war das letzte Kapitel von "Wie uns Flügel wuchsen". Ich danke allen Leuten, die kommentiert haben - ich hab mich über jeden einzelnen Kommentar sehr gefreut Ich hoffe, es hat euch gefallen :) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)