Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 15: Kisou – Kuss ------------------------ Uruha:   Sein Atem wispert über meine Lippen, als er ganz leise sagt: „Ich würde dich gerade unheimlich gern küssen.“   ‚Dann tu es doch!‘, schreit alles in mir, aber ich bekomme kein Wort heraus. Nur meine Hände machen sich selbstständig, eine krallt sich in Aois Shirt, die andere spiegelt sein Streicheln. Doch wo seine Finger durch mein Haar kämmen, lasse ich sie über seinen Hals und die Wange gleiten. Seine Haut ist so warm und die feinen Bartstoppeln, die einen bläulichen Schatten auf sein Kinn und die Kieferlinie werfen, kitzeln meine Handfläche. Noch nie habe ich etwas Schöneres gesehen als Aoi in diesem Augenblick. Seine Augen flackern leicht hin und her, scheinen mich zu studieren, und wieder frage ich mich, was er sieht. Was er in mir sieht. Meine Lider flattern, schließen sich, als er den letzten Abstand zwischen unseren Mündern überbrückt und seine Lippen auf die meinen legt. Unser Kuss ist sanft, fast nur ein Windhauch, und bereits vorbei, bevor ich überhaupt begreife, dass wir uns wahrhaftig geküsst haben.   „Ich … tut mir leid … ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.“   Jetzt? Ernsthaft? Das hat er nicht gesagt, oder? Gerade waren meine wirbelnden Gedanken so herrlich still gewesen, hatte es nichts gegeben, als den Mann vor mir und seine Lippen auf den meinen. Nun ist wieder alles da, die Angst vor der Ungewissheit und die Sorge, ihn zu verlieren, noch bevor ich ihn richtig kennengelernt habe.   „Reita ist … der wichtigste Mensch in meinem Leben“, beginnt Aoi erst stockend, wird jedoch mit jedem verstreichenden Moment sicherer. Mein Magen verkrampft sich, weil es so klingt, als würde er mir nun das sagen, was ich schon die ganze Zeit befürchte. Dass ich keinen Platz in seinem Leben habe, dass wir niemals mehr als nur gute Freunde sein können. Aber warum dann der Kuss? Warum das Geständnis, dass auch ich ihm viel bedeute? „Wir kennen uns schon ewig, sind quasi miteinander aufgewachsen. Wir sind eine Einheit – er und ich.“ Er seufzt, scheint nach den richtigen Worten zu suchen und ich frage mich, ob es diese überhaupt geben kann. Mein Herz weiß nicht, was es fühlen soll, und mein Verstand hat keine Gedanken, die ihm dabei behilflich sein könnten. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Außenstehende Reitas und mein Zusammenleben oft nicht verstehen, weil es nicht den üblichen Normen einer Beziehung folgt.“   Das Wort ‚Beziehung‘ bohrt sich durch meine Gehörgänge direkt in meinen Kopf, hallt dort von den Wänden meines Schädels wider. Es wird lauter und lauter und in meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Ich verstehe Aoi nicht mehr, kann nicht mehr hören, was er mir sagt. Würde er nicht vor mir knien und Gefahr laufen, umzufallen, wenn ich zu schnell aufstehe, würde ich genau das tun. So bleibe ich sitzen und versuche, irgendwie Luft in meine Lungen zu bekommen. Meine Brust ist wie zugeschnürt und ich merke, wie meine Hände zu zittern beginnen.   „Uruha?“ Wie aus weiter Ferne höre ich meinen Namen, spüre einen Druck um meine zitternden Finger. Aois Gesicht schwimmt zurück in mein Blickfeld und jetzt erst fühle ich die Tränen, die haltlos über mein Gesicht rinnen. Seine Hände halten die meinen umschlossen, seine Lippen küssen meine Fingerknöchel; jeden Einzelnen. Himmel, mein Herz hält das nicht aus, es zerspringt jeden Augenblick, da bin ich mir sicher. „Atme, bitte, ganz ruhig.“ Ich höre die Besorgnis in seiner Stimme, sehe sie an seinen fest zusammengepressten Lippen. Ich konzentriere mich auf ihn, nehme jedes Detail seines Gesichts wahr. Ich spüre seinen Atem, passe mich seinem Rhythmus an, bis die Panik sich zurückzieht, den eisernen Griff um meine Brust lockert.   „Ich dachte …“ Meine Stimme bricht und ich hasse mich für diese Schwäche. „Warum hast du …“ Ich schüttele den Kopf, aber bringe nur Satzfetzen hervor. „Warum behauptest du, dass ich dir wichtig bin, wenn du jetzt …“ Ich kann es nicht aussprechen. Oh bitte, ich will davon laufen, weit weg, bis mich diese fürchterliche Ungewissheit nicht mehr so schmerzt. Gleichzeitig hält er mich hier, seine schiere Präsenz, nach der ich mich jeden Augenblick sehne, in dem ich sie nicht spüren kann. Ich will ihn nicht verlieren.   „Verflucht“, schnappt er und ich sehe, wie stark er sich auf die Unterlippe beißt. Für eine irrwitzige Sekunde überkommt mich das Verlangen, seine arme Lippe zu befreien, dann hätte ich mir am liebsten vor die Stirn geschlagen. Was stimmt denn nicht mit mir? „Ich bin das alles vollkommen falsch angegangen, es tut mir so leid. Du bedeutest mir viel, sehr viel und ich würde dir unglaublich gern näher kommen, wenn du das auch willst. Es ist nur, Reita und ich sind speziell, er war immer für mich da und ich für ihn. Ich kann und werde das nicht aufgeben, kannst du das verstehen?“ Ich blinzele, plötzlich so verwirrt, dass mein Herz für einen Moment vergisst, wehzutun.   „Ehm …“, mache ich dümmlich und sehe Aoi aus verheulten Augen an. „Ich glaube, ich begreife gerade gar nichts.“   „Kein Wunder.“ Er seufzt und streckt die freie Hand aus, um auf dem Küchentisch nach der Taschentuchbox zu angeln. „Verzeih mir, Uruha, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Ich weiß auch nicht, warum es mir so schwerfällt, die richtigen Worte zu finden.   Wortlos nehme ich ein Tuch entgegen, tupfe mir vorsichtig die Tränenspuren vom Gesicht und hoffe, dass mein Make-up tatsächlich wasserfest ist. Erst jetzt wird mir klar, wie nah mir Aoi ist; ob er etwas bemerkt hat? Mein Puls beschleunigt sich, als er auf die Beine kommt. Seine Körperhaltung ist unleserlich und als er sich zu allem Überfluss von mir wegdreht, gesellt sich zu dem anhaltenden Gefühlschaos die irrationale Angst, dass er verschwindet, weil er sich von mir abgestoßen fühlt. Aber er geht nur zum Herd, nimmt zwei Tassen aus dem Schränkchen darüber und gießt die heiße Schokolade ein. Ein mehr als großzügiger Schuss Rum folgt, dann steht er erwartungsvoll wieder vor mir. Erleichterung schwappt über mich wie eine Flutwelle und hätte mich mit sich gerissen, wären es nicht Aois Augen, die im selben Moment meinen Blick suchen. Ein Rettungsanker, nach dem ich greife, bevor es mir richtig bewusst ist.   „Darf ich dich darum bitten, mir noch eine Chance zu geben, es besser zu machen?“   Ohne, dass ich es verhindern kann, zuckt mein rechter Mundwinkel in der Andeutung eines Lächelns nach oben. Aoi sieht so herzzerreißend jung aus, wie er mit zerknirschter Miene und den dampfenden Tassen in beiden Händen vor mir steht. Gott, ich bin ein hoffnungsloser Fall.   „In Ordnung“, wispere ich und fühle, wie ein Teil meiner Anspannung von mir abfällt. Ich bin ihm wichtig, das hat er selbst gesagt. Er will mir näher kommen … mein Herzschlag beschleunigt sich. Nicht einmal mein überforderter Verstand kann diese Worte fehlinterpretieren. Aoi hat es verdient, dass ich ihm richtig zuhöre, und versuche, mich nicht erneut von meinen Selbstzweifeln übermannen zu lassen.   „Danke“, haucht er so leise, dass ich es überhört hätte, würden meine Augen nicht noch immer wie magisch von seinen Lippen angezogen werden. „Lass uns nach oben gehen, im Wohnzimmer redet es sich besser.“   Ich nicke, stehe auf und greife wie selbstverständlich nach den Tassen, damit Aoi die Hände frei hat, um sich zu orientieren. Ich weiß, dass er dieses Haus wie seine Westentasche kennt, aber ich habe bemerkt, dass er sich so deutlich wohler fühlt und sicherer unterwegs ist.   Erst, als wir im Obergeschoss angekommen sind, ich die Tassen abgestellt habe und mich unschlüssig vor das Sofa stelle, schwappt erneut eine Welle der Unsicherheit über mich. Dennoch nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und halte Aoi auf, der die Fernbedienung für die Multimediaanlage in die Hand nehmen will. Mein Griff ist fest und als ich es bemerke, lockere ich ihn, beginne mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streicheln.   „Reita und du seid also mehr als nur Freunde?“   „Ja.“   „Und trotzdem willst du … ja, was eigentlich?“ Ich schaue ihn noch immer verwirrt an, obwohl mir langsam dämmert, worauf er hinaus will. Aber ich schweige, die Angst zu groß, ihn doch falsch verstanden zu haben, und gleichzeitig fährt mir eine heftige Nervosität durch die Eingeweide, die ich mir nicht ganz erklären kann.   „Ich will mit dir zusammen sein.“ Aois Hand befreit sich aus meiner Umklammerung, nur um sogleich mit meinen Fingern zu spielen. Sein Blick ist offen, seine Haltung stolz und gerade. „Aber ich brauche auch Reita, seine Nähe und den Halt, den er mir gibt. Den wir uns gegenseitig geben, verstehst du?“   „Eine Partnerschaft zu dritt also?“   „Partnerschaft“, flüstert Aoi und ich verstehe ihn nur, weil ich die Bewegung seiner Lippen lesen kann, die sich nun zu einem versonnenen Lächeln verziehen. In diesem Augenblick wirkt er so glücklich, dass ich versucht bin, mich auf alles einzulassen, nur um diesen Ausdruck noch länger auf seinem Gesicht sehen zu können. Aber kann ich das wirklich? Kann ich Aoi mit jemandem teilen, der ihn schon umso vieles länger kennt?   Ich muss an Reita denken, an den Mann, der mich bei unserer ersten Begegnung so irritiert hat und der mir in den letzten Wochen auf unerklärliche Art ans Herz gewachsen ist. Würde er mich überhaupt wollen? Er ist nicht wie Aoi, ihm ist die dicke Schicht Make-up in meinem Gesicht sicher aufgefallen. Wie könnte ich mich ihm jemals so zeigen, wie ich wirklich bin? Ihn sehen lassen, was sich hinter meiner Maske verbirgt. Er wird meine Hässlichkeit sehen … wird mich nie wieder Gorgeous oder Handsome nennen. Ich spüre, wie meine Augen erneut feucht werden. Solange ich ihm nicht zu nahe komme, kann ich genau diese Reaktion verhindern … so wie bei Aoi. Das schlechte Gewissen sticht in meiner Brust und ich verziehe die Lippen. Ich bin froh, als Aoi weiterredet, mir einen Grund gibt, nicht länger über meine Schuld nachdenken zu müssen.   „Wie gesagt, Reita und ich sind zusammen, aber weder exklusiv, noch schlafen wir miteinander, wenn einer von uns einen Partner oder eine Partnerin hat. Wir haben es versucht, mit einer klassischen Beziehung meine ich, aber sind immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass wir beide auf diese Weise nicht funktionieren.“   „Ach so?“, murmle ich, weil mir keine bessere Erwiderung einfallen will. Nun bin ich noch verwirrter als zuvor und mein Gemütszustand muss mir anzumerken sein, denn Aoi redet weiter:   „Ich wollte nicht, dass du unser Verhalten missverstehst. Wir sind sehr körperbetont, was dir sicher aufgefallen ist. Ich hatte Angst, dass du dich betrogen fühlst, wenn Reita mir ohne nachzudenken einen kleinen Kuss gibt, mich umarmt oder streichelt. Das ist … unsere Normalität, verstehst du?“ Seufzend fährt Aoi sich durchs Haar und sieht mir drängend ins Gesicht. „Bitte sag mir, dass ich mich gerade nicht um Kopf und Kragen rede.“   „Tust du nicht“, nuschle ich gedankenversunken, weil ich mir noch immer nicht sicher bin, was ich von Aois Offenbarung halten soll. Sie sind also kein Paar, aber mehr als Freunde, und er hat mir das alles nur erzählt, um Missverständnissen vorzubeugen. Eigentlich löblich, aber mein dummes Herz kann sich nicht entscheiden, was es fühlen soll. Für einen kurzen Moment hat sich der Gedanke, auch Reita näher zu kommen, mit beiden Männern eine Beziehung zu führen, irgendwie … richtig angefühlt. Und jetzt? Bin ich etwa enttäuscht, dass es nur Aoi ist, der sein Herz für mich öffnet? Himmel, was stimmt denn nicht mit mir? Bin ich nicht gerade selbst zu dem Schluss gekommen, dass einen gewissen Abstand zu Reita zu wahren, der einzig gangbare Weg für mich ist? Ich schüttele den Kopf, um die wirren Gedanken noch mehr durcheinanderzubringen, in der Hoffnung, sie lassen mich so endlich in Ruhe. Ich will nicht mehr denken, nicht mehr über Dinge nachgrübeln, die sein könnten oder eben nicht.   Entschlossen nehme ich die Fernbedienung an mich und schalte die Anlage ein, wie Aoi es eben tun wollte. Leise Musik erfüllt den Raum und es dauert einen Moment, bis ich den Song erkenne. Bei der nächsten Strophe flüstere ich die Worte halb singend mit, ohne vermeiden zu können, dass sich eine feine Schamesröte auf meine Wangen schleicht. „I want you to know I still love you, even though we've been dancing on broken glass.“ Aois Mund steht leicht offen und erst da bemerke ich, was genau ich gesagt habe. Es passt nicht ganz auf unsere Situation und gleichzeitig hätten die Worte nicht wahrer sein können. In diesem Moment weiß ich so unumstößlich wie ich weiß, dass der Himmel blau und das Gras grün ist, dass ich mich verliebt habe. Die Erkenntnis legt sich wie Blei in meinen Magen, hallt wie ein Donnerschlag durch meinen Körper und lässt mich ebenso erstarren wie Aoi. Die Zeit verrinnt schmerzhaft langsam, der Song verstummt und macht einer R’n‘B Nummer Platz, die ich nicht kenne. Ich blinzele und auch Aoi taucht aus seiner Erstarrung auf, nur um mir den nächsten Schock zu versetzen. Plötzlich liegt seine Hand am Übergang zwischen meinem Hals und dem Kinn, und seine Lippen sind den meinen so nah, dass ich jeden seiner beschleunigten Atemzüge spüren kann. Atme ich genauso schnell? Schlägt sein Herz auch so heftig gegen seinen Brustkorb, wie es das meine tut?   „Darf ich dich noch einmal küssen?“, fragt er und ich nicke. Jeder weitere Gedanke flieht aus meinem Kopf, macht wohltuender Leere Platz, als er mich endlich, endlich in den Kuss zieht, den ich mir schon vor Minuten erhofft habe. Wieder spüre ich, wie weich seine Lippen sind, und ein wohliger Schauer rinnt über meinen Rücken, als seine Zunge forschend über die meinen leckt.   Haben wir geklärt, ob wir es mit einer Beziehung versuchen wollen? Nein. Bin ich mir schon im Klaren darüber geworden, wie ich mit der besonderen Freundschaft zwischen Reita und ihm umgehen soll? Schön wäre es. Verstehe ich, wie es sein kann, dass ich mich nicht nur zu Aoi hingezogen fühle? Mein Herz schreit ja; was weiß dieses dumme Ding schon. Aber die wichtigste Frage überhaupt: Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, um mir über diese Dinge Gedanken zu machen? Definitiv nicht.   Ein kleiner Laut stiehlt sich aus meiner Kehle, als ich den Mund einen Spalt öffne und Aois Zunge Einlass gewähre. Gänsehaut bedeckt mit einem Mal jeden Zentimeter meines Körpers und ich lege die Arme um seine Mitte, bringe ihn ganz nah gegen mich. Unser Kuss wird intensiver, vertreibt die letzten Reste meiner Unsicherheit. Hier und jetzt ist nichts wichtig, nur der Mann in meinen Armen zählt und dieser unfassbare Kuss, der mir gleichermaßen den Atem und den Verstand raubt.   Ich weiß nicht, wann wir beschlossen haben, uns aufs Sofa zu setzen oder wie Aoi es geschafft hat, so perfekt auf meinen Schoß zu passen. Meine Hände haben ein Eigenleben entwickelt, streicheln durch sein weiches Haar, über den wohlgeformten Rücken und verharren an dem kleinen Spalt nackter Haut, den sein verrutschtes Shirt offenbart hat. Er keucht, als ich mit einem Finger darunter fahre, die Linie seiner Wirbelsäule nachzeichne. Noch immer küssen wir uns, als würden wir ersticken, wenn wir auch nur eine Sekunde voneinander abließen.   „Uruha.“ Okay, doch kein Erstickungstod, stellt ein kichernder Teil in meinem Kopf fest, als sich Aoi genau in diesem Augenblick von mir löst, um meinen Hals mit versengenden Küssen zu bedecken. Ich fühle mich willenlos, hilflos dem Genuss und Verlangen ausgeliefert, die jede seiner Berührungen in mir auslöst. Ich keuche, als er sich an meiner Haut festsaugt – er macht mir gerade nicht wirklich einen Knutschfleck, oder? – und gleich noch lauter, als er seine Zähne über dieselbe Stelle schaben lässt. Wir sollten reden, unseren Status klären, bevor wir etwas tun, was wir später bereuen könnten. Aber will ich das wirklich? Ein weiterer Kuss. Nein, nein, um nichts in der Welt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)